Kris Longknife: Die Rebellin: Roman (German Edition)
zugebracht. Sie hatte auf Daten zurückgreifen können, eine Menge Daten, geradezu ein Übermaß an Daten – nur nicht, wie sich dann herausstellte, die richtigen Daten. Hier und jetzt hatte sie gar nichts. Für Sequim hatten ihr kampfeslustige Marines zur Verfügung gestanden, während ihr hiesiges Kommando aus Zivilisten bestand, die zwischen drei Monaten und siebenundneunzig Jahren alt waren. Sie hatte kranke, deprimierte und vor allem müde und hungrige Menschen. Die Müden ließ sie schlafen. Mit den herbeigeschafften Vorräten konnten zumindest die Hungrigen ihre erste anständige Mahlzeit seit einem Jahr genießen. Genug, um ihnen Kraft für den Anstieg zu geben, ohne andererseits halb verhungerte Mägen zu überfordern. Wenn die Schlafenden wach wurden, erhielten sie etwas zu essen. Einige, die ganz Jungen oder Alten, konnten danach wieder einschlafen. Andere fühlten sich zum ersten Mal seit Monaten wieder fast gut, hingen herum und waren bereit, etwas anzupacken, wussten aber nicht richtig, was. Kris erstellte eine Liste der Menschen, die sie für in der Lage hielt, aus eigener Kraft die Felswand zu ersteigen. Brandon, der es irgendwie versäumt hatte, sich gleich dem ersten Schwung anzuschließen, landete auf dem ersten Platz dieser kurzen Liste.
»Haben Sie nicht vor, irgendetwas zu tun?«, fragte er sie zum elfundvierzigsten Mal.
»Nee«, antwortete Kris, während sie half, ein drei Jahre altes Kind zu füttern. »Wir haben Seile und Züge zum Endpunkt des Weges gebracht. Einige Leute schaffen derzeit das dorthin, was wir an Heuballen haben. Möchten Sie ihnen nicht helfen?« Sie hatte ihm den Job schon vorher angeboten, damit aber nicht ganz seinen Geschmack getroffen. Das tat sie auch jetzt wiedernicht. Die Hacken und Schaufeln waren schon am Ziel. Kris hätte auch gern gewusst, wie hoch das Wasser inzwischen stand, aber das war kein Job, den sie Brandon geben wollte. Nachdem das kleine Mädchen gefüttert worden war, nahm die Mutter es in die Arme und sang ihm ein Schlaflied vor. Kris warf einen Blick auf die Uhr: drei Stunden bis Sonnenaufgang. Wahrscheinlich dreieinhalb, bis sie hier unten Licht erhielten. Zeit zu warten.
Warten war angeblich das, was die Frauen in alter Zeit getan hatten, während die Männer unterwegs waren, um einen Krieg zu führen oder den Lebensunterhalt zu verdienen. Kris fand, dass Männer Schlappschwänze waren. Sie wandte Brandon den Rücken zu und ging zur Tür. Draußen stieß sie mit Sam zusammen, der gerade hereinkommen wollte.
»Wie sieht der Fluss aus?«, fragte sie, während er zurückwich.
»Steigt. Das Wasser steht fast dreißig Zentimeter hoch in der Mulde zwischen hier und dem Wegende. Wir ziehen dort gerade einen Stacheldrahtzaun entlang, um den Weg zu markieren.«
»Klingt gut.«
»Könnten Sie diesen Navy-Burschen anrufen und ihn fragen, wie es läuft?«
»Das könnte ich, aber würden Sie einen Anruf annehmen, wenn Sie gerade auf halbem Weg an dieser Felswand hängen?«
»Nein, aber nicht zu wissen, wie die Lage aussieht, das macht hier alle nervös.«
»Sam, es könnte sein, dass sie zweihundertfünfzig Meter an dieser Felswand emporklettern und dann auf den letzten fünfzig Metern stecken bleiben.« Kris dachte nicht gern daran, aber es traf zu. Wenn die Sonne aufgegangen war, wussten sie es vielleicht immer noch nicht.
»Sam, Sam, du solltest lieber schnell kommen!«, rief ein Läufer, während er heranrutschte.
»Was ist passiert?«
»Benny ist gerade vom Liebessprung gefallen!«
Kris fragte nicht nach weiteren Erklärungen, sie rannte los. Der Läufer wendete rasch und übernahm die Vorhut. Sam blieb ihnen auf den Fersen. Wie schon gemeldet, reichte ihnen das Wasser auf einem Teil des Weges bis halb die Wade hinauf, aber eine Linie von Zaunpfosten wurde dort gerade in den Boden gehämmert. Die Stacheln an dem dazwischen gespannten Draht sahen nicht allzu bösartig aus. Dicht an der Felswand entdeckte Kris ein Licht und steuerte diese Stelle direkt an.
Ein halbes Dutzend Männer standen im Kreis um einen, der am Boden lag. Ein Blick auf den Körper verriet Kris alles, was sie wissen musste. Arme, Rücken und Beine wiesen in viel zu viele Richtungen. Schnitte im Gesicht zeigten, dass er im Sturz immer wieder an die Wand geprallt war. Eine knorrige Kiefer lag auf ihm. Das war es jedoch nicht, was Kris in Bann schlug.
Das Team wechselte den Bergführer. Einer übernahm für eine gewisse Distanz und zog dann die anderen an einem Seil
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