Kris Longknife: Die Rebellin: Roman (German Edition)
während er zum Fenster hinausstarrte. Die Frage kam von der jungen Frau direkt hinter Kris. Auf der ersten Etappe ihrer Fahrt hatte sie in der Mitte gesessen.
»Dürfen wir auf diese Leute schießen?«
»Sie werden auf uns feuern. Wir schießen zurück.«
»Meine Mutti und der Prediger sagen immer, der Tod läge in Gottes Hand. In der Hand Gottes und der Ärzte. Deshalb tun die Banden auch das Falsche. Jetzt sagen Sie, es wäre in Ordnung zu töten. Sind Sie sicher, Ma’am?«
Kris war als Politikertochter aufgewachsen und damit in einer Welt, in der man alles tat, was nötig wurde, um die nächste Wahl zu gewinnen. Opa Trouble war zu einem Zeitpunkt als Ritter in schimmernder Rüstung aufgetreten, als Kris so tief am Boden war, dass sie sich gar nicht vorstellen konnte, wieder nach oben zu kommen. Sie las gern in den Geschichtsbüchern über das, was er im Krieg erlebt hatte. Er und Opa Ray. Sogar die Uromas Ruth und Rita standen in den Geschichtsbüchern, hatten für das gekämpft, was richtig war. Natürlich hatte auch Kris den Grundsatz gelernt: »Du sollst nicht töten.« Für sie war das Gebot jedoch nie von absoluter Gültigkeit gewesen. Stimmt, ehe Harvey eine Spinne tötete, trug er sie lieber vor die Tür, um seine Frau glücklich zu machen, aber er hatte Seite an Seite mit Opa Ray in der Schlacht an der Kluft gekämpft und war verdammt stolz darauf.
»So, wie ich es verstehe«, begann Kris ihre Antwort langsam, wobei sie nach Worten suchte, die die Seelen ihrer Soldaten entsicherten, »gibt es eine Zeit zu bauen und eine Zeit zu zerstören. Eine Zeit zu leben und eine Zeit zu sterben. Ich sage: Sollten diese Männer auf uns schießen, ist ihre Zeit zu sterben gekommen. Oder sie werfen ihre Waffen weg und heben die Hände. Und hängen, sobald das Gericht mit ihnen fertig ist.«
Sie drehte sich um und betrachtete die drei jungen Rekruten forschend. Sie waren bleich. Der Bursche in der Mitte leckte sich nervös die Lippen. Das Mädchen fingerte an ihrer Waffe herum, als wollte sie überprüfen, ob diese auch real war. Der freudige Held warf einen Blick auf Kris und starrte dann wieder zum Fenster hinaus. »Was diese Männer auf der Farmstation da eben taten, hat sie aus dem Kreis der Menschheit befördert. Wenn sie auf uns schießen, machen wir sie nieder wie die tollen Hunde, zu denen sie geworden sind. Das sind Ihre Befehle. Sie werden sie ausführen. Sollte meine Entscheidung falsch sein, muss ich mich vor einem Gericht rechtfertigen, nicht Sie.«
»Die Leute werden jedoch tot sein, ob ein Gericht nun findet, dass Sie im Recht waren, oder nicht«, wandte der Mann in der Mitte ein.
»Irgendwie wie beim Colonel«, pflichtete ihm die Frau bei.
Das lief nicht so, wie Kris erwartet hatte. In den Geschichtsbüchern fand man keine widerstrebenden Soldaten. Andererseits waren das Navy-Leute, die kaum die Grundausbildung absolviert hatten. Vielleicht sollte Kris die Marines anweisen, mit ihrem Lkw näher an die Spitze des Konvois zu rücken.
V ielleicht sollte ich mir die ganze Sache noch mal überlegen.
Kris wandte sich wieder nach vorn. Während des Gesprächs waren die offenen Felder verkrüppelten Bäumen und Gestrüpp gewichen. Manche Bäume lagen am Boden, und große Wurzelballen ragten aus dem stehenden Wasser. Kris nahm sowohl die Straße voraus als auch das Land hinter den Bäumen in Augenschein. Nur Straße und Wasser. Vermutlich ein Graben entlang der Straße. Wie konnte sie mit ihrer Parade kehrtmachen? Unmöglich, selbst wenn sie gewollt hätte. Sie leckte sich die Lippen und verwarf diese Option. Wohl oder übel würde dieser Konvoi auf dem bisherigen Kurs bleiben.
Kris konzentrierte sich auf das, was sie in den nächsten Minuten erwartete. Hatte sie an alles gedacht? Was hatte sie vergessen? Das war angeblich die ewige Frage aller Befehlshaber. Was musste noch getan werden? Panik stieg in ihr auf. Was entging ihr? Sie konnte sich nicht erinnern, darüber etwas in den Geschichtsbüchern gefunden zu haben.
Kris überprüfte ihre Waffe und verfolgte, wie die Bäume immer dichter an die Straße rückten. Sie aktivierte erneut ihr Mikro. »Leute, wir können damit rechnen, dass sich die Zielpersonen hinter Bäumen verstecken. Unsere Gewehre sind mit Entfernungsmessern ausgestattet, die automatisch die Ladung für die Darts bestimmen. Diese wird zu gering sein, um die Baumstämme zu durchschlagen. Stellen Sie die Ladung auf den Höchstwert.«
»Ma’am«, meldete sich eine zitternde Stimme.
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