Kristall der Träume
Selbstvertrauen gewonnen, dachte sie bei sich. Er ist nicht mehr der nervöse junge Mann von vor drei Monaten. Und die Sonnenbräune steht ihm gut. Bald war er so lebhaft, wie es sein Nachname, Lively, sagte.
Sie sinnierte weiter darüber, warum Dr. Lively ihr unter all den anderen, kräftigeren Männern so besonders gefiel. Es ist seine Freundlichkeit und Güte, dachte sie. Auf Matthews Hilfe konnte man bauen, wie kritisch die Situation auch sein mochte; er war immer bereit, sein Essen zu teilen oder erschöpfte Frauen in seinem Wagen mitzunehmen, deren Ehemänner keinen Blick für ihre Nöte hatten; und schließlich kümmerte er sich stets um das Wohlbefinden seiner Mitreisenden, wenn andere sich aus Erschöpfung nicht die Mühe machten.
Während Emmeline so über Dr. Lively nachsann und sich sogar eingestand, dass er gar nicht so übel aussah, stellte Matthew seinerseits Betrachtungen über Emmeline Fitzsimmons an. Nur waren seine Gedanken eher pragmatischer Natur und konzentrierten sich auf einen zentralen Punkt: dass er jetzt, wo er darüber nachdachte, Miss Fitzsimmons’ kräftige Figur eigentlich doch recht anziehend fand.
Fort Bridger, so genannt nach seinem Gründer Jim Bridger, einem Veteranen der Wildnis, der hier sesshaft geworden war, bestand aus einer schäbigen Ansammlung von roh zurechtgezimmerten Blockhütten, Indianern in Hirschleder, Trappern, Holzfällern und Auswanderern auf dem Weg nach Westen heraus. Nach beinahe drei Monaten auf dem Trail boten die Pioniere aus Amoc Tices Kolonne trotz aller Anstrengungen, ein Mindestmaß an Anstand zu wahren, einen erbärmlichen Anblick. Die Kinder barfuß und zerlumpt, die Männer mit langen, ungepflegten Barten, ihre verschlissene Kleidung vor Dreck starrend. Sogar die Lieblingsweste des dandyhaften Fotografen Silas Winslow wies hartnäckige Flecken auf, und auf seinem einst so teuren Jackett schimmerten Spuren von Schmierfett, die noch so viel Natron und Asche nicht hatten beseitigen können. Auch ihre Gemütsverfassung war nicht mehr so fröhlich wie zu Beginn der Reise: Zänkereien und Neid, private Fehden und erbitterte Rivalitäten waren unterwegs ausgebrochen und hatten aus manchen ehemaligen Freunden Feinde gemacht. Dennoch waren alle froh, dass sie endlich jenen Ort erreicht hatten, den sie als Sprungbrett für die letzte Etappe ihrer Reise ansahen: Von hier würde es Richtung Norden, nach Oregon, gehen.
Und genau hier trafen einige unter ihnen eine Entscheidung, die ihr Todesurteil bedeuten sollte.
Ein erfahrener Trapper, der auf seiner Rückreise vom Westen durch das Fort kam, warnte jeden, der ihm Gehör schenkte, vor einer angeblichen neuen Abkürzung, die man auf jeden Fall meiden sollte.
»Bleibt auf dem regulären Trail und verlasst ihn unter keinen Umständen«, riet er Arnos Tice und anderen Fuhrleuten. »Die Abkürzung könnte tödlich sein.«
Tice indes konterte: »Wenn es eine Abkürzung gibt, wäre es dumm, den Umweg zu fahren.« Er gebärdete sich, als läge ihm das Wohlergehen seiner Auswanderer am Herzen, doch dem war nicht so
– auf den letzten Meilen vor Fort Bridger hatte Arnos Tice, ohne dass irgendjemand etwas davon ahnte, einen totalen Sinneswandel durchgemacht. Jean Baptiste, der französische Trapper, der sich der Wagenkolonne für einen Tag angeschlossen hatte, war nicht nur mit Pelzen im Gepäck aus der Sierra zurückgekommen, er hatte auch ein Plakat bei sich, das von einem Ort in Kalifornien namens Sutter’s Mill stammte und von Goldfunden kündete. Gegen eine stattliche Summe hatte Tice dem Franzosen das Plakat abgekauft, um zu verhindern, dass er es noch anderen Mitgliedern seiner Truppe oder Auswanderern nachfolgender Wagenkolonnen zeigte. Denn tief in seinem Herzen war Arnos Tice ein gewinnorientierter Mann. Dass er Menschen nach Oregon führte, geschah nicht etwa aus Menschenfreundlichkeit, sondern um dort so viel freies Land wie möglich für sich zu reklamieren und dann aus den Hoffnungen und Träumen der Auswanderer Kapital zu schlagen. Dieses Motiv war in dem Augenblick vergessen, als ihm das Plakat von Sutter’s Mill unter die Augen kam.
Der Franzose war weitergeritten, und Arnos hatte auf den letzten Meilen bis Fort Bridger über der Frage gebrütet, wie er nach Kalifornien gelangen sollte. Die Wagenkolonne zu verlassen und allein weiterzureiten wäre ein höchst gefährliches Unterfangen, denn nur die Gruppe bot Schutz, schließlich waren die Wagenkolonnen zu diesem Zweck zusammengestellt worden.
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