Kristall der Träume
einem Minimum an Nahrung und Zuwendung aufziehen, und wenn es dann tatsächlich seinen dritten oder vierten Geburtstag erlebte, konnte man es mit einem stattlichen Gewinn auf dem Sklavenmarkt verkaufen. Hatte das Mädchen Glück, würde es einen gütigen Herrn finden, viel wahrscheinlicher würde es jedoch ein harsches Sklavendasein führen und bestenfalls dem sexuellen Vergnügen dienen.
Amelia erlebte das Wiedersehen von Vater und Tochter wie mit den Augen einer Fremden – sie würde nie dazu gehören, weder als Ehefrau noch als Mutter. Sie trat aus dem Schatten und ging, dem Koch Anweisungen für das abendliche Festmahl zu geben. Während Amelia noch die Speisenfolge mit dem Koch besprach, stand Philo, der Majordomus, unerwartet auf der Schwelle, um ihr mitzuteilen, dass ihr Ehemann sie zu sehen wünsche. Amelia traute Philo nicht.
Hinter seinen schläfrigen Augen verbarg sich ein scharfer Verstand, und sie argwöhnte, dass Philo ihr nachspionierte, um ihren Gatten von jedem ihrer Schritte zu unterrichten. Bevor sie ihren Mann in seinen Privatgemächern aufsuchte, eilte sie rasch in ihre eigene Suite, um ihre Frisur, ihre Tunika und ihr Parfüm zu überprüfen. Sie war plötzlich nervös. Warum wollte Cornelius sie sehen? Amelia und ihr Gatte sprachen kaum noch miteinander, selbst nach einer siebenmonatigen Trennung nicht. Cornelius Vitellius, einer der populärsten Anwälte Roms und gegenwärtig Liebling der Plebs, war in Familienangelegenheiten nach Ägypten gereist. Amelia und ihr Mann waren sehr reich. Cornelius besaß Kupferminen in Sizilien, eine Handelsflotte und Getreidefelder in Ägypten, Amelia wiederum gehörten mehrere große Mietshäuser im Zentrum von Rom.
Sie fand ihn an einem kleinen Schreibtisch sitzend. Gerade erst von einer langen Reise zurück, sichtete er bereits seine Korrespondenz. Amelia blieb abwartend stehen. Schließlich fragte sie: »Wie war Ägypten, mein Gebieter?«
»Ägyptisch«, meinte er wegwerfend.
Amelia wäre liebend gern mit ihm gereist. Schon seit ihrer Kindheit hatte sie davon geträumt, die Ruinen Ägyptens zu besuchen, aber solche Träume waren mittlerweile begraben.
Während sie nervös darauf wartete zu erfahren, warum er sie sehen wollte, fragte sie sich, ob es in den letzten sieben Monaten irgendetwas gegeben hätte, was er auch nur im Entferntesten als Verstoß gegen seine ihr auferlegten Regeln ansehen könnte. Ein unmögliches Unterfangen. Cornelius konnte schon das leiseste Wort, die kleinste Geste als Akt der Rebellion deuten. Was immer es war, wie würde er sie diesmal bestrafen?
Er ließ sie seine Bestrafung auf vielerlei Arten spüren. So lehnte er jedes Gespräch ab, in dem sie sich hätte erklären können. Er hatte sie verurteilt, und das genügte ihm. Nach ihrem Fehltritt hatte Cornelius sie nicht, wie andere Ehemänner es tun würden, ausgefragt. Er hatte auch nicht die Stimme erhoben und sie beschimpft. Aber Cornelius hatte ihr jeden Ausweg genommen.
Anstatt sich von ihr scheiden zu lassen und sie ins Exil zu verbannen, was sein gutes Recht war, hatte Cornelius auf einer Fortführung der Ehe bestanden. Damals hielt Amelia das für ein Zeichen des Vergebens. In Wirklichkeit war es genau das Gegenteil.
Von nun an kontrollierte er ihr Leben und schickte sie, als Teil ihrer Bestrafung, von Zeit zu Zeit aufs Land. Dabei liebte Amelia die Stadt. Hier war das Theater, hier lebten alle ihre Freunde. Wann immer sie zwangsweise auf ihrem Landsitz saß, dachte sie an Julia, die Tochter von Augustus, die auf die Insel Pandateria verbannt worden war, einem öden Vulkaneiland im Ozean, das so klein war, dass sie es in weniger als einer Stunde der Länge und der Breite nach durchschreiten konnte. Hier war Julia gestorben. Solcher Art war das Schicksal treuloser Ehefrauen – sofern sie für ihr Verbrechen nicht hingerichtet wurden.
Cornelius jedoch hatte eine langsamere und schmerzlichere Bestrafung gewählt. Anstatt sie mit einem Schlag zu erledigen, behielt er Amelia an seiner Seite, um sie mürbe zu machen, um ihr Selbstbewusstsein und ihren Stolz schwinden zu sehen. Sie verglich sich oft mit der Göttinnenstatue in ihrem Garten, die, den Elementen ausgesetzt, jedes Jahr ein bisschen mehr zerstört wurde. Die ehemals perfekt gemeißelten Züge waren von Wind und Regen bis zur Unkenntlichkeit ausgewaschen. So sah Amelia sich selbst: als Statue, die der Willkür ihres Gatten ausgesetzt war. Und wie eine Statue war auch sie unbeweglich und konnte nicht
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