Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
spürte sie, wie die Jahre von ihr abfielen. Angels Verrat schwand zu Bedeutungslosigkeit und all die Tage und Nächte, die sie auf seine Rückkehr gewartet hatte, waren endlich vergessen. Sie konnte diese Last nicht mehr tragen, jetzt nicht, wo sie sich leichter als Luft fühlte und sehr jung ... so jung.
»Sieh doch!« Angel deutete auf eine Bude am Hauptweg und zog sie dorthin. Sie stolperte ihm nach, lachend, seine Hand festhaltend.
An der Bude setzte er seine Maske auf und beugte sich über den Holztisch. Der Budenbesitzer, ein alter Mann mit runzeligem Gesicht, grinste ihn an. »Möchten Sie Schmuck für Ihr Mädchen gewinnen, Mister?«
Madelaine sah, worauf Angel schaute, und hielt den Atem an. Es war ein Paar protziger roter Plastikohrringe, die an einem Kleiderhaken baumelten, der an der Rückwand der Bude befestigt war.
Sie wusste, dass sie ihn in genau diesem Augenblick nicht ansehen sollte. Wenn sie das tat, würde er alles in ihren Augen sehen. Er würde wissen, was dieser Moment ihr bedeutete, was es bei ihr auslöste, dass er sich erinnerte. Aber sie konnte nicht wegschauen.
Als ihre Blicke sich trafen, war sie wie elektrisiert. »Die Ohrringe«, flüsterte sie.
Er lächelte und berührte zärtlich ihre Wange.
»Okay, ihr Turteltauben«, rief der Budenbesitzer mit dröhnender Stimme und klimperte mit dem Beutel mit dem Wechselgeld, der er um die Hüfte trug. »Wollt ihr spielen oder was?«
Angel grinste. »Oder was.«
Bevor Madelaine fragen konnte, was er meinte, hatte er ihre Hand ergriffen und zog sie weiter über den Hauptweg. Lachend klammerte sie sich an ihn, ließ sich von ihm mitreißen. Erst als sie den Rand des Jahrmarkts erreicht hatten, begriff sie, wohin er sie führte. Sie hielt den Atem an und spürte plötzlich einen winzigen stechenden Schmerz in ihrem Herzen.
Er führte sie zu dem Baum, ihrem Baum.
Die Erinnerungen stürmten auf sie ein, drückten auf ihre Brust, bis sie kaum mehr atmen konnte.
Er kniete sich auf das welke Gras und zog sie neben sich hinunter. Wortlos ließ er ihre Hand los und begann, in der Erde zu wühlen, grub, bis ein Haufen Schmutz auf seinem Knie war. »Hab sie«, sagte er schließlich, wobei er die schmutzigen roten Ohrringe aus dem feuchten schwarzen Boden zog. Er streifte die Maske von seinem Gesicht, so dass sie ihm lose am Hals hing, wandte sich dann zu ihr, um sie anzusehen.
Madelaine starrte auf den billigen Plastikschmuck und erinnerte sich an ihren letzten gemeinsamen Abend - als sie unter dieser alten Eiche gelegen und einander versprochen hatten, sich immer zu lieben.
Die Erinnerung daran sollte eigentlich schmerzen. Früher hatte sie immer geschmerzt. An diesem Abend aber, wo er die Ohrringe in seinen Händen hielt und die Luft vom Duft von Popcorn und Zauber erfüllt war, hatte nichts die Macht, ihr wehzutun.
»Du hast dich erinnert«, flüsterte sie und biss sich auf die Unterlippe. Als sie ihn ansah, kamen die Tränen, quollen hervor, rannen über ihre Wangen. Sie konnte sie nicht unterdrücken und wollte es auch nicht.
Er wischte ihr mit einem seiner schmutzigen Finger eine Haarsträhne aus den Augen. »Was hatten wir damals gesagt? Verrückte Worte von Teenagern darüber, dass unsere Liebe nie enden würde, dass diese Ohrringe auf ewig eine Erinnerung an unsere Liebe sein sollen ...«
Sie zwang sich zum Lachen und wollte etwas sagen, etwas Oberflächliches oder Unbekümmertes, aber nichts kam heraus, außer einem heiseren, leisen »Alberne Worte«.
Um seine Lippen spielte kein Lächeln. »Nicht albern. Du sagtest: >Wir werden sie hier lassen. Auf diese Weise wird ein Teil von uns immer unter diesem alten Baum existieren. Wenn wir alt sind, können wir mit unseren Enkelkindern hierher zurückkehren^«
»Oh, mein Gott«, flüsterte sie. »Das ist genau das, was ich gesagt habe.«
»Ich hab versucht, es zu vergessen, Mad. Ich rannte und rannte, bis es keinen Ort mehr gab, zu dem ich hätte laufen können. Vieles aus der Zeit habe ich vergessen, aber die Worte waren immer wieder da, tief in mir vergraben.« Er nahm ihre Hand und legte den billigen, schmutzigen Schmuck hinein.
»Ich habe dich niemals vergessen. Ich weiß, dass das nichts von all dem wieder gutmacht, aber ich habe dich nie vergessen ...«
Sie wollte darauf Ich liebe dich sagen, wollte es so sehr, weil die Worte in ihrer Kehle brannten. »Ich habe dich auch nie vergessen.«
Es war nicht das, was sie sagen wollte, aber es war alles, wozu sie den Mut hatte. Dieser
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