Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
eine Zigarette oder ein Glas Wasser. Irgendetwas, egal was, um sich daran festzuhalten, darauf zu starren. Irgendetwas anderes, wohin sie schauen konnte, als in die verwirrten graugrünen Augen ihrer Mutter.
Und dieser verdammte Song ging ihr fortwährend durch den Kopf. You and Me Against the World. Du und ich gegen die ganze Welt.
Ihre nächste Frage würde alles verändern. Das Wenige, was ihr und ihrer Mutter geblieben war, zerreißen.
Er weiß nichts von dir. Er würde dich lieben, wenn er es wüsste.
Lina klammerte sich an diesen tröstenden Gedanken, bis ihre Finger zu zittern aufhörten und der Kloß in ihrer Kehle schmolz. Langsam, dabei tief einatmend, schloss sie ihre Augen, unfähig, ihre Mutter anzusehen, als sie die Frage stellte. »Wie ist sein Name, Mom? Das ist alles, was ich zu meinem Geburtstag möchte. Nur einen Namen.«
Für eine Sekunde wurde alles ruhig und still.
»Wie heißt wer?«, sagte Mom schließlich. Ihre Stimme war sanft. So sanft, als ob sie wisse, wisse und Angst habe.
Lina öffnete ihre Augen und erwiderte den Blick ihrer Mutter. Sie spürte ein wenig Gewissensbisse, wusste, wie sehr ihre nächsten Worte ihre Mutter verletzen würden, aber sie verdrängte die Gefühle. »Mein Vater.«
»Oh, mein Gott«, flüsterte Francis.
Lina schenkte ihm keinen Blick, sondern starrte einfach ihre Mutter an, die so reglos war, dass es aussah, als würde sie nicht einmal atmen. Sie stand erstarrt in der Mitte des Raumes, ihr honigbraunes Haar sanft aus ihrem Gesicht geschwungen, ihre klare, blasse Haut gerötet. Die hellrote Seide ihrer Bluse war ein beißender Farbfleck an ihrem Hals.
»Nun?«, drängte Lina sie.
Farbe kroch an dem langen, schlanken Hals ihrer Mutter hinauf. Sie fasste sich mit einer zitternden Hand an die Stirn und strich eine nicht vorhandene Haarsträhne weg. »Dein Vater...« Sie hielt inne, warf Vater Francis einen unsicheren Blick zu.
Lina hatte einen plötzlichen, entsetzlichen Gedanken. »Ist er es? Vater Francis und die Jungfrau Maria der Medizin?« Sie lachte grell, fast hysterisch, aber es war nicht komisch. Wie kam es, dass sie diese Möglichkeit nie in Betracht gezogen hatte? Ihr zweiter Name war Francesca. O, Gott. Es war hysterisch, war wirklich hysterisch. Wer wäre besser für ihre perfekte Mutter geeignet als ein Geistlicher? »Wie viele Ave-Maria würdest du dafür bekommen?«
»Nein«, sagte Francis. »Ich wünschte, ich wäre dein Vater, Lina, aber ich bin es nicht.«
Linas Atem explodierte in einem Seufzer der Erleichterung. Er war nicht ihr Vater, hatte nicht all diese Jahre als Heuchler neben ihr gelebt, als jemand, der nicht zugeben wollte, dass er ihr Vater war. Er war noch immer ihr Freund, der Onkel, den sie nie gehabt hatte, das einzige andere Familienmitglied, das sie je gekannt hatte. Ganz plötzlich erinnerte sie sich Hunderter Momente in ihrer Vergangenheit, in denen er für sie da gewesen war, ein aufgeschlagenes Knie verarztet hatte, mit ihr gespielt hatte, mit ihr in den Imbissstuben gewesen war, in die Väter mit ihren Töchtern gingen. Sie bewegte sich hölzern auf ihn zu, ihren Blick auf sein Gesicht fixiert. Vor Verlegenheit füllten Tränen ihre Augen. Sie konnte sie nicht verdrängen. »Aber du weißt, wer es ist? Du weißt es.«
Francis erbleichte. Er warf ihrer Mutter einen bestürzten Blick zu. »Mad...«
»Frag sie nicht.« Tränen liefen über Linas Gesicht. Sie erfasste Francis' Hand und drückte sie. »Bitte ...«
»Francis wird es dir nicht sagen«, sagte Madelaine mit müder Stimme.
Lina sah in den blassblauen Augen von Francis die Wahrheit. Er mochte Lina lieben, aber nicht so sehr, dass er gegen die Wünsche ihrer Mutter handelte. Niemals so sehr, dass er sich gegen die große und perfekte Madelaine stellte.
Lina spürte eine plötzliche heiße Welle von Wut. Wie konnte ihre Mutter es wagen, ihr diese Information vorzuenthalten? Wie konnte sie es wagen?
Sie wirbelte herum, stürzte zu ihrer Mutter. »Sag es mir.«
Ihre Mutter streckte einen Arm aus und legte ihre eiskalte Hand auf Linas Wange. »Lass uns darüber reden, Kleines. Auf diese Weise geht das nicht, nicht so ...«
Lina schlug die Hand weg. »Ich will nicht darüber reden. Ich will eine Antwort.« Ihre Stimme brach, Tränen rollten. »Du redest immer und ich bin es leid. Ich bin's müde, laut und anders zu sein.« Sie sah zu ihrer Mutter auf, Tränen verschleierten ihren Blick, sie fühlte sich elend und völlig durcheinander.
»Es tut mir Leid,
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