Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
Kleine. Das wusste ich nicht.« Moms Stimme sank zu einem Flüstern. »Ich hätte es dir vor Jahren sagen sollen.«
Lina fasste sie bei den Schultern. Furcht und Panik erfüllten sie, löschten alles andere aus bis auf das Verlangen, endlich eine Antwort zu erhalten. »Sag es mir.«
»Dein Vater wollte nicht...« Mom sah Francis an und lachte unsicher. »O, Gott, Francis, warum tut das denn noch immer so weh?«
Kälte erfüllte Lina. Sie konnte die Antwort spüren, die förmlich um sie wirbelte. Sie wollte schreien, wollte das so sehr, aber ihr Mund war trocken und ihre Kehle wie zugeschnürt. Doch plötzlich waren die Tränen verflogen. »Er wollte mich nicht.«
»Nein, das ist es nicht.« Madelaine trat vor, ihren Blick auf Linas Gesicht fixiert. »Er... wollte mich nicht, Kleines. Mich.« Sie stieß ein sprödes Lachen aus. »Mich hat er verlassen.«
Lina wich zurück. »Was hast du ihm angetan? Was?« Sie schaute zu Francis hinüber, dann wieder ihre Mutter an, spürte, dass neuerlich Panik ihr Blut in Wallung brachte, und das machte sie krank und benommen und wütend. »Du hast ihn vertrieben, nicht wahr? Hast ihn krank gemacht mit deiner Perfektion.« Ihre Stimme brach und sie begann heftiger zu weinen. »Du hast ihn dazu gebracht, uns zu verlassen.«
»Lina, hör mir zu. Bitte, ich liebe dich so sehr, Schatz. Bitte, lass uns...«
»Nein!« Lina merkte nicht einmal, dass sie geschrien hatte. Sie wich zurück, hielt sich die Ohren zu. »Ich will nicht mehr zuhören.« Sie machte kehrt und rannte zur Tür, riss sie auf. Als sie nach draußen trat, in das strahlende Sonnenlicht des Tages - ihres sechzehnten Geburtstages -, spürte sie eine eigenartige Ruhe. Ihre Tränen trockneten und ballten sich zu einem harten, kalten Klumpen in ihrem Magen zusammen. Langsam drehte sie sich zu ihrer Mutter um. »Bin ich wie er?«
Lina hätte schwören können, dass sie das erste Mal Tränen in den Augen ihrer Mutter glitzern sah. Aber das war natürlich unmöglich. Sie hatte ihre Mutter nie weinen sehen. »Lina ...«
»Bin ich wie mein Vater?«
Madelaine starrte sie einen langen Moment an, dann wandte sie sich leicht ab. Ihr Blick wurde weich. »Du bist genau wie er.«
Zuerst verwirrte der Ausdruck in den Augen ihrer Mutter Lina. Dann überkam das Verstehen sie in einer eisigen Welle.
Ihre Mutter erinnerte sich an ihn.
Erinnerungen, die der Familie gehören sollten, die in Linas Herz bewahrt sein sollten, an dieser Stelle, wo jetzt nichts als ein dunkles Loch war, mit Daddy markiert. Lina hatte sich so sehr bemüht, diese Leere in ihrem Leben zu füllen, Bilder eines Mannes zu beschwören, der vor langer, langer Zeit weggegangen war und nie zurückgeschaut hatte. Und sie brauchte nur eine ganz einfache Frage zu stellen, und ihre Mutter erinnerte sich an Millionen Dinge über ihn. Wie er aussah, wie er lächelte, wie seine Hand sich anfühlte, wenn sie ihre eigene hielt. An alles das, was Lina sich zu wissen sehnte und niemals herausfinden konnte.
Lina sah Madelaine an und hasste sie in diesem Augenblick mehr, als sie jemals jemand gehasst hatte. »Dann weiß ich, warum er dich verlassen hat.«
Kapitel 4
Francis stand wie erstarrt da, war unfähig, einen zusammenhängenden Gedanken zu fassen. Er atmete schnell, zu schnell. Er hörte sich an wie ein Marathonläufer, aber er hatte keinen einzigen Schritt getan. Er warf Madelaine, die wie angewurzelt dastand, die Hände zu Fäusten geballt und in die Seiten gestemmt, den Rücken stocksteif, einen kurzen Blick zu.
Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber das war auch nicht nötig. Er kannte und liebte sie seit fast siebzehn Jahren. Er wusste, was sie fühlte.
Er trat unbeholfen auf sie zu. »Maddy?«
Sie schien ihn nicht zu hören.
»Madelaine?«
Als sie schließlich sprach, klang ihre Stimme dünn und abwesend. »Tja, das war wirklich ein Reinfall.«
Es brach ihm das Herz, dass sie noch immer tat, als sei sie unerschütterlich. »Sei nicht...«
Sie seufzte schwer. »Ich hätte ihr schon vor langer Zeit von ihm erzählen sollen, Francis.«
Im Lauf der Jahre hatten sie diese Diskussion schon hundertmal geführt und er wusste, dass sie sich jetzt wieder Selbstvorwürfe wegen der Entscheidungen machen würde, die sie getroffen hatte. So war sie nun mal. Sie nahm immer die Schuld auf sich. Übernahm die Verantwortung für das Unglück der ganzen Welt.
Er trat neben sie und nahm ihre Hand. Er wollte etwas sagen, fühlte sich aber unsicher, wie immer, wenn er sich
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