Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
Periode bekam. Sie hatte schließlich den Mut gefunden, ihre Mutter nach ihm zu fragen, und Madelaine hatte zuerst bestürzt dreingeschaut und dann plötzlich einen traurigen, abwesenden Blick bekommen und gesagt, er habe sie vor langer Zeit verlassen. Dass er nicht bereit gewesen sei, Vater zu sein. Aber das habe nichts mit Lina zu tun, hatte Madelaine nachdrücklich erklärt. Überhaupt nichts.
Lina konnte sich noch genau an das Gefühl erinnern, an die Verlassenheit, die sie empfunden hatte.
Jedes Mal, wenn sie jetzt in den Spiegel schaute, sah sie die Augen eines Fremden, das Lächeln eines Fremden. Und mit jedem Tag fühlte sie sich einsamer und einsamer und noch verlorener.
Damals war es gewesen, in diesem kalten Dezember des sechsten Schuljahres, als Lina bewusst wurde, dass sie mit der Sehnsucht nach ihrem Daddy alleine dastand, die Einzige war, die fand, dass mit ihrer Familie etwas nicht in Ordnung sei. Das war der Zeitpunkt, als das Verhältnis zu ihrer Mutter sich zu verändern begann. Lina war mit ihren Fragen auf ihr Zimmer gegangen, hatte sich mit ihnen beschäftigt, sich ihnen so gewidmet, wie sie einst mit ihrem Teddybär gekuschelt hatte. Eine kühle Vorsicht entstand im Umgang mit ihrer Mutter, eine wachsame Distanz, eigens dazu geschaffen, wie es schien, weitere Fragen zu verhindern.
Lina hatte sich in vielen Nächten in den Schlaf geweint. Sie hatte das Gefühl, als ob sie schon immer um ihn geweint hatte, um diesen mysteriösen Vater, der nie zu ihr gekommen war, nie nach ihr gefragt hatte, nie an ihrem Geburtstag angerufen hatte.
Sie hatte getrauert, bis keine Trauer mehr in ihr war, und dann waren langsam, irgendwie auf heimtückische Weise, diese Gedanken gekommen. Vielleicht wusste er nichts von ihr.
Nachdem der Gedanke erst einmal gesät war, begann er Wurzeln zu schlagen. Lina nährte ihn täglich mit dem Wasser der Möglichkeit, bis sie es eines Tages glaubte. Absolut und total. Ihr Vater wusste nichts von ihr. Denn sonst wäre er hier, bei ihr, liebte sie, würde mit ihr etwas unternehmen und ihr all die Dinge kaufen, die Mom ihr nicht erlaubte.
Er würde nicht so viel von ihr verlangen, würde nicht seinen Kopf schütteln und missbilligend mit der Zunge schnalzen, wenn sie darum bat, sich tätowieren lassen zu dürfen. Er würde ihre Fragen beantworten und sie trösten. Er würde ihr erlauben, dass sie die ganze Nacht im Hause ihres Freundes blieb.
Vielleicht würde er sie nach einem bösen Traum sogar in die Arme nehmen und sie einfach weinen lassen ...
Die Zigarette zwischen ihre Zähne geklemmt, riss sie die Eingangstür auf und trat ins Haus. Sie warf ihre Jacke auf den Garderobenhaken und ging über den weiten Korridor, bog in die Küche.
Die war leer.
Sie nahm noch einen brennenden Zug aus der Zigarette und sah sich um, war sich plötzlich unsicher, was sie tun sollte. Der Küchentisch war farbig geschmückt und auf ihm lagen Päckchen gestapelt, eingewickelt in glänzende Folien. In ihrer Mitte stand ein weißer Kuchen in Form einer Harley-Davidson Low Rider. Ballons füllten die kleine Küche, blinzelten ihr von überall zu - von Stuhllehnen, dem Chromgriff an der Vorderseite des Herdes, von der Kühlschranktür. Große Ballons von Mylar, und auf allen stand Happy Birthday.
Auf dem Kuchen waren sechzehn Kerzen - diese albernen gedrehten rosa Kerzen, die es in Schachteln zu dreißig Stück bei Safeway gab.
Tränen brannten in ihren Augen und verwischten den Kuchen und das Tischtuch zu einer weißrot karierten Schmiere. Wütend auf sich selbst, fuhr sie sich mit dem Handrücken über die feuchten Augen und wandte sich mit einem Ruck vom Tisch ab.
Was war nur mit ihr los? Wer fing schon beim Anblick eines blöden alten Kuchen an zu heulen?
Aber sie wusste, was es war. Ihre Mutter hatte versucht, die richtigen Ballons aufzuhängen, den richtigen Kuchen zu kaufen. Lina hatte keinen Zweifel daran, dass ihre Mom beim Kauf jedes Geschenks Qualen gelitten hatte.
Sie wusste auch, dass jedes Geschenk falsch sein würde: zu kindisch, zu erwachsen, zu spät, zu früh. Es war genau so, wie es zwischen ihr und ihrer Mom war. Es gab nie etwas, das stimmte.
Nicht wie früher, damals, als »You and Me Against the World« von Helen Reddy ihr und Moms Lied gewesen war. Damals, als sie es die ganze Zeit gesungen hatten, gelacht, getanzt, sich umarmt hatten.
Jetzt schaute sie auf den blöden, im Laden gekauften Kuchen und ihr fehlte alles. Sie vermisste die Nächte, in denen sie
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