Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
sich dazu, an die anderen Dinge zu denken, an die anderen Augenblicke, und ließ sich von dem Schmerz kalt und reinigend durchspülen.
Sie hatte geglaubt, sie hätte ihm verziehen, was er ihr angetan hatte - dass er sie verlassen hatte, ohne ihr auch nur Lebewohl zu sagen. Das hatte sie ehrlich und wahrhaftig geglaubt. Immer wieder hatte sie sich die Abfolge der Ereignisse durch den Kopf gehen lassen. Sie sagte sich, dass sie Angel keine Vorwürfe dafür mache, dass er weggelaufen sei. Sie sagte sich, dass siebzehn Jahre jung war, so jung, und mit jedem neuen Jahr ihres Lebens war siebzehn noch jünger. Sie sagte sich, dass es so am besten gewesen sei, dass sie es nie geschafft, dass sie sich ihr Leben gegenseitig ruiniert hätten.
Ja, sie hatte sich viele Dinge eingeredet, aber jetzt, in dieser Sekunde, als sie auf ihn hinabstarrte, erkannte sie endlich die Wahrheit. Es waren Lügen. Alles Lügen. Hübsches Geschenkpapier um ein böses, hässliches Geschenk.
Sie hatte ihm nicht vergeben. Wie könnte sie auch?
In diesem Sommer hatte er einen Teil von ihr getötet, einen Teil, den er erschaffen und genährt und den zu lieben er behauptet hatte. Einen Teil, den sie nie wieder zurückbekommen hatte.
Angel erwachte langsam. Für eine kurze, segensreiche Sekunde wusste er nicht, wo er sich befand oder was ihm widerfahren war. Dann drang das gedämpfte saugende Geräusch von Maschinen an seine Ohren, das Murmeln des Elektrokardiographien.
Nach seinem vergeblichen Ausbruchversuch hatten Hilda, die Vogelfrau, und eine Krankenschwester von der Größe eines Marineinfanteristen sein nutzloses Herz wieder zur Kontrolle an den Haken gehängt. Die Maschine zeichnete alles klickend auf und spuckte Berge von Papier aus.
Er fühlte sich hundeelend. Seine Brust schmerzte, der Kopf dröhnte und die Nadeln in seinem Arm brannten wie unzählige Feuer. Er konnte sich nicht bewegen, ohne dass er irgendwo Schmerzen spürte. Er konnte das verräterische Schwirren von Medikamenten in seinem Blutkreislauf förmlich spüren. Er hatte in seinem Leben zu oft Betäubungsmittel genommen, um sich täuschen zu lassen.
Er stöhnte und ließ den Kopf zur Seite sinken. Der Geruch von alter Baumwolle, grüner Götterspeise und gebratenem Truthahn drang in seine Nase.
Essenszeit in der Herzhölle.
Er zuckte zusammen, als Sonnenlicht in seine Augen stach. Blinzelnd versuchte er, seine trockenen Lippen zu befeuchten, und griff zitternd nach dem blauen Plastikkrug, auf dem 264-W stand.
»Ich werde das für dich tun.«
Die Stimme plätscherte auf ihn nieder. Zuerst bemerkte er ihre beruhigende Heiserkeit, diese Kehligkeit wie bei Debra Winger. Sie erinnerte ihn an etwas, an eine ferne Nacht in seiner Vergangenheit, als er eine Kellnerin in Tulsa aufgegabelt hatte, sie mit nach Hause genommen hatte, gefi...
Oh, Gott. Das war überhaupt nicht die richtige Erinnerung.
Sein idiotisches Herz machte einen Satz, stieß gegen seinen Brustkorb und begann zu hämmern wie ein alter Motor, der den falschen Sprit bekommt. Der Monitor neben ihm spuckte ein plötzliches Revolverfeuer in den Raum. Er konnte nicht atmen.
Atme tiefein, du Arschloch. Beruhige dich. Langsam hob er sein Kinn. Und sah sie neben sich.
Gott, nach all diesen Jahren ...
Sie saß völlig aufrecht da, ihr Oberkörper war verdeckt durch einen Arztkittel, der unter den breiten, weißen Aufschlägen kaum etwas von einem waldgrünen Pullover erkennen ließ. Ihr Gesicht war herrlich ausdruckslos, ihre großen, silbergrünen Augen waren völlig leer. Kein Lächeln spielte um die Winkel ihrer vollen, ungeschminkten Lippen.
Für eine Sekunde blitzte das Bild eines sechzehnjährigen Mädchens mit gebrochenem Herzen durch sein Hirn. Es stand an einem vergitterten Fenster, eine blasse, schlanke Hand auf die Scheibe gepresst, Tränen liefen ihm über die Wangen, es rief seinen Namen.
Er hatte sich in ein süßes Etwas mit langem braunem Haar und lachenden, nebelgrünen Augen verliebt, aber die Frau, die neben ihm saß, hatte nichts mehr von diesem Mädchen an sich. Sie war majestätisch in ihrer Haltung, das kurze, honigbraune Haar akkurat gestylt, das Gesicht von klassischer Vollkommenheit. Die perfekte Ärztin, völlig dominant.
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Seltsamerweise ärgerte es ihn, dass sie so gut allein zurechtgekommen war. Er hätte glücklich sein müssen, er sollte stolz auf sie sein, aber er fühlte sich nur betrogen und wütend. Als ob all diese Erinnerungen an sie Einbildung seien. Diese Frau
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