Kristin Lavranstochter 1
dieses kleine hübsche Mädchen bresthaft oder lahm weiterleben müßte?“
Ragnfrid schüttelte den Kopf und schrie leise auf:
„Ich habe so viele verloren, Priester, ich kann nicht auch sie verlieren.“
„Ich will tun, was ich vermag“, erwiderte er, „und aus allen Kräften beten. Aber du, Ragnfrid, mußt versuchen, das Schicksal zu tragen, das Gott dir auferlegt.“
Die Mutter stöhnte:
„Keines meiner Kinder habe ich so geliebt wie dieses kleine hier; soll nun auch sie von mir genommen werden - dann, glaube ich, bricht mir das Herz.“
„Gott steh dir bei, Ragnfrid Ivarstochter“, sagte Sira Eirik und schüttelte den Kopf. „Du willst nichts anderes mit all deinem Beten und Fasten als bei Gott deinen Willen erzwingen. Wundert es dich da, daß es wenig geholfen hat?“
Ragnfrid sah den Priester trotzig an und erwiderte:
„Ich habe jetzt nach Frau Aashild gesandt.“
„Ja, du kennst sie, ich kenne sie nicht“, sagte der Priester.
„Ich kann nicht ohne Ulvhild leben“, sagte Ragnfrid wie zuvor. „Will Gott mir nicht helfen, dann suche ich Rat bei Frau Aashild oder gebe mich in die Gewalt des Teufels, wenn er mir helfen will!“
Es schien, als wollte der Priester scharf antworten, dann aber hielt er sich zurück. Er beugte sich nieder und befühlte wieder die Gliedmaßen des kleinen kranken Mädchens.
„Sie hat kalte Hände und Füße“, sagte er. „Wir müssen ein paar Krüge mit warmem Wasser in ihr Bett legen - und dann dürft ihr sie nicht mehr anrühren, bevor Frau Aashild kommt.“
Kristin ließ sich lautlos auf die Bank zurückgleiten und tat, als schlafe sie. Ihr Herz hämmerte vor Angst - sie hatte von dem Gespräch zwischen Sira Eirik und der Mutter nicht viel verstanden, doch es hatte sie fürchterlich erschreckt, und sie wußte wohl, daß es nicht für ihre Ohren bestimmt gewesen war.
Die Mutter stand auf, um die Krüge zu holen; da brach sie schluchzend zusammen. „Bete trotzdem für uns, Sira Eirik!“
Bald darauf kam die Mutter mit Tordis zurück. Der Priester und die Frauen machten sich nun mit Ulvhild zu schaffen, und hierbei wurde Kristin gefunden und hinausgeschickt.
Das Licht blendete Kristin, als sie auf dem Hofplatz stand. Während sie in der großen Winterstube gesessen hatte, war ihr gewesen, als sei der größte Teil des Tages verstrichen, und nun lagen die Häuser hellgrau da, und das Gras glänzte blank wie Seide in der weißen Mittagssonne. Der Fluß blitzte hinter dem goldenen Gitter des Erlengebüsches - er erfüllte die Luft mit seinem munteren und eintönigen Rauschen, denn er lief hier bei Jörundhof in einem flachen Bett voll großer Steine rasch dahin. Die Bergwände ragten in klarblauem Dunst empor, und die Bäche sprangen durch schmelzenden Schnee ins Tal. Der süße und starke Frühling hier draußen machte sie weinen vor Kummer über all die Hilflosigkeit, die sie rings um sich fühlte.
Es war kein Mensch auf dem Hofplatz, aber sie hörte die Leute in der Knechtestube reden. Frische Erde war auf die Stelle gestreut, wo ihr Vater den Stier niedergeschlagen hatte. Sie wußte nicht, was sie mit sich anfangen sollte - da kroch sie hinter die Wand des Neubaues, der ein paar Balken hoch aufgeführt war. Darin lagen ihre und Ulvhilds Spielsachen; sie räumte sie in einem Loch zwischen dem untersten Balken und der Grundmauer zusammen. In der letzten Zeit hatte Ulvhild all ihr Spielzeug haben wollen; darüber war sie manchmal ärgerlich gewesen. Sie dachte, wenn die Schwester gesund werden würde, wollte sie ihr alles geben, was sie besaß. Und dieser Gedanke tröstete sie ein wenig.
Sie dachte an den Mönch in Hamar - er war dessen sicher, daß für alle Menschen Wunder geschehen konnten. Aber Sira Eirik glaubte nicht so fest daran und auch die Eltern nicht -und sie war gewohnt, auf diese am meisten zu hören. Es befiel sie wie ein entsetzlicher Druck, als sie nun zum ersten Male ahnte, daß Menschen über so viele Dinge so verschieden denken konnten - und nicht nur böse, gottlose Menschen auf der einen Seite und gute auf der anderen, sondern auch gute Menschen untereinander, wie Bruder Edvin und Sira Eirik - die Mutter und der Vater; sie fühlte plötzlich, daß auch sie über viele Dinge verschieden dachten.
Tordis fand Kristin spät am Tage in einem Winkel schlafend und nahm sie zu sich; das Kind hatte seit dem Morgen nichts mehr gegessen. Tordis wachte in der Nacht mit Ragnfrid bei Ulvhild, und Kristin schlief mit Jon, Tordis’ Mann, und mit
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