Kristin Lavranstochter 1
zu verstehen.
Sie wollte nicht zugeben, daß sie sah, wie verändert der Vater war. Er war noch nicht so sehr gealtert: er hatte sich schlank erhalten und bewegte sich noch schön und geschmeidig. Das Haar war stark ergraut, jedoch fiel dies nicht auf, da er stets so blond gewesen war. Trotzdem - in ihrer Erinnerung stand das Bild jenes jungen, strahlend schönen Mannes vor ihr: die frische Rundung der Wangen in dem länglichen, schmalen Gesicht, die helle Röte der Haut unter dem sonnverbrannten Schimmer, der Mund rot und voll mit tiefen Winkeln. Jetzt war sein muskelstarker Körper bis auf Knochen und Sehnen eingeschrumpft, das Gesicht braun und scharf, wie in Holz geschnitzt, die Wangen dünn und mager, mit einem Muskelknoten in jedem Mundwinkel. Ja, aber er war auch kein junger Mann mehr - obgleich er doch auch wieder nicht so sehr alt war.
Ruhig, besonnen und nachdenklich war er stets gewesen, und sie wußte, daß er schon von Kindheit an mit besonderem Eifer die Gebote des Christentums befolgt hatte, Messen und Gebete in der Römersprache geliebt und die Kirche aufgesucht hatte als jenen Ort, an dem er seine größte Freude fand. Aber alle hatten damals gefühlt, wie freier Mut und Lebensfreude im Gemüt des stillen Mannes breit und ruhig dahinwogten. Nun schien es, als sei etwas in ihm abgeebbt.
Kristin hatte ihn nur ein einziges Mal betrunken gesehen, seitdem sie daheim war - an einem Abend der Hochzeit auf Formo. Da hatte er ein wenig getaumelt, und seine Stimme war rauh gewesen, aber besondere Lustigkeit hatte er nicht gezeigt. Sie entsann sich des Vaters von ihrer Kindheit her - bei den großen Biergelagen an den hohen Feiertagen und bei Gastgelagen -, wie er da aus vollem Halse lachen konnte, sich bei jedem Scherz auf die Schenkel schlug und alle Männer, die ihm an Leibeskräften gleich schienen, aufforderte, mit ihm zu ringen und die Kräfte zu messen; wie er die Pferde erprobte und im Tanze sprang, aber selbst am meisten lachte, wenn er unsicher auf den Füßen stand; wie er Gaben ausstreute und vor Gutmütigkeit und Freundlichkeit gegen alle Menschen überströmte. Sie begriff, daß ihr Vater den großen Rausch brauchte, von Zeit zu Zeit, zwischen der ständigen Arbeit, den strengen Fasten, die er einhielt, und dem stillen Leben daheim mit den Seinen, die in ihm ihren besten Freund und ihre Stütze erblickten.
Sie fühlte auch, daß ihr Mann niemals dieses Bedürfnis hatte, sich zu betrinken, wohl weil er sich so wenig Zwang auferlegte, wenn er auch noch so nüchtern war, sondern stets seinen Einfällen Folge leistete, ohne viel über Recht oder Unrecht nachzugrübeln oder darüber, was die Leute für guten Brauch und ver-ständiges Gebaren ansahen. Erlend war starken Getränken gegenüber der mäßigste Mann, den sie je gekannt hatte - er trank, um den Durst zu löschen und um der Gesellschaft willen, ohne sich viel daraus zu machen.
Jetzt hatte Lavrans Björgulvssohn das alte gute Verhältnis zu den Bierschalen verloren. Er hatte nicht mehr das in sich, was er im Rausch auslösen mußte. Nie war ihm der Gedanke gekommen, seine Sorgen in unmäßigem Trinken zu ersäufen, und es kam ihm auch jetzt nicht in den Sinn - er kannte es nicht anders, als daß sich ein Mann nur mit seiner Freude zum Trinken setzen sollte.
Mit seinen Sorgen war er an eine andere Stelle gegangen. Ein Bild schwebte der Tochter stets in halbem Dämmern vor: der Vater in jener Nacht, da die Kirche abbrannte. Er stand unter dem Kruzifix, das er gerettet hatte, das Kreuz halb tragend und sich halb dagegen lehnend. Ohne es klar zu Ende zu denken, ahnte Kristin, daß die Furcht für ihre und ihrer Kinder Zukunft bei jenem Mann, den sie erwählt hatte, und das Gefühl seiner eigenen Machtlosigkeit in dieser Beziehung ein Teil der Sorgen waren, die Lavrans verändert hatten.
Dies nagte im geheimen an ihrem Herzen. Und sie war heimgekommen, müde von der Unruhe des letzten Winters, müde von dem Leichtsinn, mit dem sie sich selbst an Erlends Sorglosigkeit in Ruhe gewiegt hatte. Sie wußte, daß er verschwenderisch war und blieb, nicht die Fähigkeit besaß, seine Besitztümer zu verwalten, die sich unter seiner Leitung langsam und unaufhörlich verringerten. Wohl hatte sie ihn dazu überredet, dies und jenes auf ihren und Sira Eilivs Rat hin zu ordnen, aber sie brachte es nicht über sich, immer und ewig mit ihm über solche Dinge zu sprechen; es war verlockend, jetzt auch einmal mit ihm froh zu sein. Sie fühlte sich des Kampfes
Weitere Kostenlose Bücher