Kristin Lavranstochter 1
kleine Locken hervor.
Sie hub gleich an, Kristin um viele Dinge zu befragen, wartete aber nie die Antwort ab; statt dessen erzählte sie von sich selbst und zählte ihre Sippe in allen Zweigen auf - es waren nur tüchtige und überaus reiche Leute. Sie war selbst einem sehr reichen und mächtigen Mann verlobt, Einar Einarssohn auf Aganaes, aber er war viel zu alt und schon zum zweiten Male Witwer; das sei ihr größter Kummer, sagte sie. Kristin konnte jedoch nicht bemerken, daß sie es schwernahm. Dann schwätzten sie ein wenig über Simon Darre - es war erstaunlich, wie genau sie ihn angesehen hatte in jenem kurzen Augenblick, als sie im Kreuzgang aneinander vorbeigegangen waren. Danach wollte sie in Kristins Truhe hineinschauen, zuerst aber schloß sie ihre eigene auf und zeigte alle ihre Kleider her. Während sie in den Truhen wühlten, kam Schwester Potentia herein; sie wies sie zurecht, es sei dies keine schickliche Sonntagsbeschäftigung. Dadurch fühlte sich Kristin wieder unglücklich. Sie war nie von anderen als von ihrer eigenen Mutter zurechtgewiesen worden, und es war etwas anderes, von Fremden ermahnt zu werden.
Ingebjörg machte sich nichts daraus. Nachdem sie sich am Abend zu Bett gelegt hatten, schwätzte sie noch, bis Kristin in Schlaf fiel. Zwei ältere Laienschwestern schliefen in einem Winkel der Stube; sie sollten auf die Mädchen achtgeben, daß sie nicht während der Nacht die Hemden ablegten, denn es verstieß gegen die Regeln, daß die Mädchen sich ganz auszogen, und sollten dafür sorgen, daß sie zur Frühmesse in der Kirche aufstanden. Aber im übrigen bekümmerten sie sich nicht darum, Ordnung im Schlafraum zu halten, und taten, als merkten sie es nicht, wenn die Mädchen wach lagen und schwätzten oder die Leckereien verzehrten, die sie in ihren Truhen verborgen hatten.
Als Kristin am nächsten Morgen geweckt wurde, war Ingebjörg schon mitten in einer langen Erzählung, so daß Kristin beinahe dachte, die andere habe die ganze Nacht hindurch geschwätzt.
2
Die fremden Kaufleute, die den Sommer über in Oslo waren und handelten, kamen im Frühling um die Zeit der Kreuzmesse in die Stadt, das war zehn Tage vor dem Halvardsfest. Zu dieser Zeit strömte das Volk von allen Ortschaften zwischen dem Mjös-See und der Landesgrenze herbei, so daß es in den ersten Wochen des Maimonates in der Stadt von Menschen wimmelte. Es war am vorteilhaftesten, bei den Fremden zu kaufen, bevor sie zuviel von ihren Waren abgesetzt hatten.
Schwester Potentia verwaltete die Einkäufe in Nonneseter, und am Tage vor dem Sankt-Halvards-Fest hatte sie versprochen, daß Ingebjörg und Kristin mit ihr in die Stadt hinunter dürften. Aber gegen Mittag kamen einige Verwandte von Schwester Potentia ins Kloster, um sie zu besuchen; nun konnte sie an diesem Tag nicht ausgehen. Da erbettelte Ingebjörg, daß sie allein gehen durften - obgleich das gegen die Regeln war. Zur Begleitung bekamen sie einen alten Bauern mit, einen Pfründner des Klosters; er hieß Haakon.
Kristin war nun drei Wochen in Nonneseter, und in dieser ganzen Zeit hatte sie ihren Fuß nicht aus den Höfen und Gärten des Klosters gesetzt. Sie war ganz erstaunt, wie frühjahrlich es draußen geworden war. Die kleinen Haine im freien Land waren hellgrün, die Anemonen wucherten dicht wie ein Teppich zwischen den hellen Stämmen; blendende Gutwetterwolken segelten über die Inseln im Fjord dahin, und die Wasserfläche lag frisch und blau und von kleinen frühjahrlichen Windstößen gekräuselt da.
Ingebjörg hüpfte dahin, brach kleine belaubte Zweige von den Bäumen, roch daran und blickte den Leuten nach, denen sie begegneten, aber Haakon wies sie zurecht - schickte es sich für eine wohlerzogene Jungfrau, die noch dazu die Klostertracht trug, sich so zu benehmen? Die Mädchen mußten einander bei der Hand fassen und dicht hinter ihm hergehen, still und sittsam, aber Ingebjörg ließ Augen und Mund wandern - Haakon war etwas schwerhörig. Auch Kristin hatte nun die Jung-
Schwesterntracht erhalten - ein ungefärbtes grauweißes Friesgewand mit wollenem Gürtel, einem Haarband aus Wolle und einem einfachen dunkelblauen Umhang darüber, dessen Haube über dem Kopf getragen wurde, so daß das geflochtene Haar ganz verborgen war. Und Haakon schritt ihnen mit einem großen Stab mit Messingknopf voran. Er war in ein weites schwarzes Gewand gekleidet, hatte ein Agnus Dei aus Blei auf der Brust und ein Bild des Sankt Christophorus auf dem Hut
- sein
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