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Kristina, vergiß nicht

Kristina, vergiß nicht

Titel: Kristina, vergiß nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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trauerte meiner Geige nach.
    An meinem achten Geburtstag hatte mein Patenonkel Pferd und Wagen genommen und war mit mir in die Stadt gefahren. Der Händler wollte uns unbedingt eine Schülergeige verkaufen. ›Wer weiß, ob der Junge Talent hat?‹, hatte er gesagt.
    ›Der Junge hat Talent‹, behauptete mein Onkel und beharrte darauf, eine gute, eine sehr gute Geige zu kaufen. Lange prüfte er, wägte und verwarf, bis schließlich sein Blick auf dieses Instrument fiel.
    ›Die will ich!‹, sagte er.
    ›Gottchen, Gottchen‹, flüsterte der Händler erschrocken. ›Die hat mein Vater vor Jahren einem Zigeuner für teures Geld abgekauft. Die kostet ihr Geld.‹
    ›Wie viel?‹, fragte der Onkel.
    Der Händler rieb sich die Nase, druckste herum und nannte schließlich die riesige Summe von 270 Vorkriegszlotys. Der Onkel zahlte, ohne zu handeln. Den Geigenkasten allerdings nahm er mit und fragte nicht, was er koste. Der Händler rieb sich dennoch die Hände.
    Vierzehn Tage nachdem uns die Instrumente weggenommen worden waren, kamen drei Soldaten mit Rädern in unser Dorf. Einer hatte meinen Geigenkasten am Lenker hängen. Sie stiegen vor unserem Hause ab und der mit dem Geigenkasten betrat unsicher unseren Laden. Meiner Mutter reichte er die Geige und sagte: ›Der junge Mann spielt wundervoll. Ich war dabei auf dem Hof der Rogalkas. Mich widert das alles an. Viele bei uns denken wie ich. Aber Sie kennen das ja, man wird geduckt und spielt mit.‹
    Schweigend starrte meine Mutter ihn an. Voll Abscheu. Aber dann schmolz ihr Hass unter seinem klaren Blick. Sie erkannte mit einem Male, dass niemand die Menschen zu Recht in Schubladen sperren darf: in die eine die bösen Deutschen, in die andere die guten Polen. Sie rief nach mir.
    ›Nimm die Geige und bedanke dich‹, sagte sie.
    ›Bei einem Deutschen?‹, begehrte ich auf.
    ›Bei einem Menschen‹, sagte sie.«
    Der Bauer trank seinen Becher leer. Er stand auf, griff über der Bank nach einem gerahmten, vergilbten Foto und schaute es an. Dann zeigte er es. »Da, sehen Sie. Das ist gemacht, als wir noch alle zusammen waren. War wohl 1946 oder so. Fast 25 Jahre ist das her. Lange Zeit.«
    Das Foto zeigte eine Familie auf der Treppe vor einem kleinen Dorfladen.
    »Und Sie, wo sind Sie?«, fragte Kristina.
    Er zeigte mit der Spitze eines Holzspans auf einen schlanken jungen Mann.
    »Ich studierte damals in Warschau. Das war, bevor in einem Jahr mein Vater und mein Bruder starben. Da musste ich diesen verdammten Hof bewirtschaften. Aus war der Traum vielleicht ein Arzt zu werden.«
    Er hängte das Foto wieder an den Nagel.
    »Lasst uns noch einmal spielen«, bat er.
    Sie willigten ein.
    Kristina fragte: »Einen Bach-Choral?«
    »Ja«, sagte er. »Wenn wir in höchsten Nöten sein.«
    Sie spielten den Choral ganz zu Ende. Eine Weile schwiegen sie. Schließlich sprang Janec auf: »In höchsten Nöten werden wir sein«, rief er mit übertrieben lauter Stimme. »Es geht auf zwölf Uhr zu.«
    »Ihr müsst wieder kommen«, bat der Mann. Sie versprachen es und verabschiedeten sich. Der Mann ließ seine Geige nicht aus den Händen. Noch eine ganze Wegstrecke klangen ihnen die Melodien der aus dreißigjährigem Schweigen befreiten Geige nach.
    In einer Reihe nebeneinander und untergehakt, erreichten sie endlich die ersten Häuserzeilen. Das kleine Skoronow nannte sich stolz Stadt. Hier am Stadtrand, wo die neue Siedlung der zwei- und dreistöckigen Häuser gewachsen war, seit sich das Zweigwerk des Industriekombinats ausgebreitet hatte, glich der Ort noch am ehesten einer Stadt. Aber der alte Teil rund um die Backsteinkirche bestand aus niedrigen Häusern mit schweren Dächern, dunkelrotem Ziegelwerk, zum Teil Holz, und die Bezeichnung Städtchen mochte eher zutreffen.
    Immerhin, Skoronow besaß eine neue Grundschule, zu der die Kinder der ganzen Umgebung jeden Morgen herbeifuhren. Da war der schon bald nach dem Krieg gebaute Jugendclub, und dort, wo der Mühlbach gestaut worden war, lag ein Freibad. Zur weiterführenden Schule, zum Lyzeum, allerdings mussten die Schüler nach Czersk.
    Obwohl Mitternacht längst vorüber war, sangen sie lauthals. Ein Fenster öffnete sich und ein Paar winkte ihnen zu. In Skoronow wurde Singen aus jungen Kehlen nur selten als ruhestörend missverstanden.
    »Ich muss Kristina nach Hause bringen, sonst wird die Alte denken, sie habe die Nacht mit einem Freund durchgebracht«, sagte Janec.
    Großmutter war wider Erwarten nicht ärgerlich. Zwar saß

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