Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kristina, vergiß nicht

Kristina, vergiß nicht

Titel: Kristina, vergiß nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
Vom Netzwerk:
auf den Brunnenrand. Es war einer der besten Höfe der ganzen Umgebung. Die Rogalkas verschwanden kurz vor vier in den Häusern.
    Pünktlich zur angesagten Zeit erschienen die Deutschen. Von drei Lastwagen sprangen die Soldaten und bildeten eine dünne Kette rund um das ganze Gehöft. Der Kommandant kletterte aus einem Kübelwagen, nickte uns zu und marschierte zum Wohnhaus hinüber.
    ›Sind Sie der Wojtek Rogalka?‹, fragte er den Bauern.
    ›Ja.‹
    ›Ihr Hof ist beschlagnahmt.‹
    ›Aber wieso denn, Herr Major?‹
    ›Umgesiedelte Deutsche aus den Weiten Rußlands werden hier wohnen. Sie haben eine halbe Stunde Zeit das Nötigste zu packen. Zwanzig Kilogramm Gepäck für jede erwachsene Person.‹ Er blickte auf die Uhr. ›Sechzehn Uhr fünf‹, sagte er. ›Um sechzehn Uhr fünfunddreißig fährt Ihre ganze Familie mit diesem Wagen.‹
    ›Auch die Kinder?‹
    ›Jawohl.‹
    ›Und die Mägde, die Knechte?‹
    ›Jeder, der sich auf dem Hof befindet.‹
    Der Bauer, gebeugt, nervös, rannte ins Haus zurück. Das Weinen der Frauen drang durch das geöffnete Fenster.
    Wir hätten es wissen müssen. Wir hatten ja längst davon gehört, dass Höfe umstellt und zwangsweise geräumt wurden. Die Menschen kamen ins Lager. Die umgesiedelten Deutschen aus Rußland erhielten Haus und Hof und Vieh und alles, was im Hause geblieben war. Der Kommandant schritt über den Hof auf uns zu. Breitbeinig stellte er sich vor uns auf.
    ›Sie werden diese halbe Stunde lang musizieren. Zum Schluss das Deutschlandlied.‹
    Er lächelte böse.
    Vaters Augenlider zuckten nervös. ›Das können Sie nicht von uns verlangen.‹
    Der Kommandant sagte: ›Sie fühlen doch deutsch, nicht wahr?‹ Er spielte mit seiner kleinen 6,35er-Pistole, die er aus der Tasche am Gürtel genommen hatte.
    ›Na, wird’s bald?‹ Er zog die Wörter lang auseinander.
    Mein Bruder Wiktor, ein Kind beinahe noch und bleich vor Furcht, begann als Erster sein Cello zu streichen. Und bald klangen über den Hof die Melodien unseres Quartetts. Der Vater hatte uns mit starrem Gesicht befohlen zu spielen. Der Ton seiner Flöte klang klar und rein. Wir spielten Bach-Choräle. Der Kommandant ließ uns zynisch lächelnd gewähren.
    Um halb fünf jedoch schnitt er unseren Choral ›Wenn wir in höchsten Nöten sein‹ mit einem dreifachen Händeklatschen ab. Die Rogalkas standen mit Rucksäcken und Bündeln bepackt vor der Tür.
    ›Ich liebe Bach‹, sagte der Kommandant. ›Ich habe auch verstanden, warum Sie Bach spielten. Aber jetzt wähle ich. Spielen Sie das Deutschlandlied.‹
    Zum zweiten Mal an diesem Tage klang Haydns Kaiserquartett auf. Erstaunt hörten wir Vaters Flöte, heller, klarer, als er sie je geblasen.
    Die Rogalkas bestiegen die Ladefläche des Lastwagens. Wojtek Rogalka ging als Letzter. Er blieb vor uns stehen. Er spuckte auf den Boden.
    Ein Soldat stieß ihn mit dem Gewehrkolben weiter.
    Mitten in dem letzten Melodienbogen brach Vater mit einem schrillen Ton ab.
    Der Motor heulte auf, der Kommandant sprang in seinen Wagen, fuhr dicht an uns heran, stoppte und rief: ›Ihr spielt glänzend, ich komme auf euch zurück.‹
    Stumm, mit hängenden Köpfen standen wir schließlich allein im Hof. Nicht wütend, sondern eher von einer grenzenlosen Trauer erfüllt, zerbrach mein Vater seine Flöte über dem Brunnenrand und ließ die Stücke in den Schmutz fallen. Nie mehr seitdem erklang in unserem Haus ein Instrument. Mein Vater, ein bislang fröhlicher Mann, wurde verschlossen und schweigsam und neigte zu Grübeleien.
    ›Diese Menschen, diese Menschen‹, sagte er oft und oft.«
    »Er hätte besser sagen sollen: ›Diese verdammten Deutschen‹«, sagte Andrzej.
    Kristina und Janina senkten den Kopf. Nur Janec wehrte sich müde: »Warum beschimpfst du uns, Andrzej? Wir waren damals nicht auf der Welt.«
    »Ach, ihr seid Deutsche?«, fragte der Alte. »Vielleicht hätte ich das alles nicht wieder ausgraben sollen. Aber ihr mit eurer Musik . . .«
    Er blickte auf seine Geige.
    »Ich dachte gar nicht, dass es nach so vielen Jahren überhaupt noch geht.« Er starrte auf seine ungelenken Finger. »Aber sie tun es noch. Übrigens verdanke ich die Geige«, er blickte spöttisch auf Andrzej, »ausgerechnet einem Deutschen.«
    Sie blickten ihn erwartungsvoll an.
    »Der Kommandant befahl uns schon drei Tage später nach Czersk. Mit unseren Instrumenten. Er hatte gehört, was mein Vater getan hatte. Wütend hat er alle unsere Instrumente beschlagnahmt. Ich

Weitere Kostenlose Bücher