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Kristina, vergiß nicht

Kristina, vergiß nicht

Titel: Kristina, vergiß nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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sie, aufrecht und angekleidet, in ihrem Holzsessel und wartete auf Kristina, aber die gefürchtete Predigt blieb aus. Wolf lag vor ihren Füßen. Er räkelte sich müde und wedelte matt.
    »Macht, dass ihr ins Bett kommt, ihr Nachtschwärmer«, sagte Großmutter, als Janec noch zu erzählen beginnen wollte, »morgen ist auch noch ein Tag.«
    Kristina aber fiel erst in einen unruhigen Schlaf, als die Dämmerung den Himmel schon in kaltes Blau zu färben begann.

Basia
    Wenn ich mich im Spiegel ansehe, werde ich wütend. Zu viel Speck auf den Hüften, Schenkel wie Grubenstempel, einen breiten Schädel. Andrzej sieht mich anders. Haare wie Weizen, sagt er, eine Haut wie Kaffee mit viel Milch. Andrzej ist ein Dichter. Er sagt, wenn er die Welt in meinen Augen gespiegelt sehe, dann erst begreife er sie.
    Alle sagen, ich sei die geborene Mathematikerin. Wenn sie wüssten, wie wenig kühles Überlegen damit verbunden ist. Meine Haut ist dünn, Worte stechen mühelos hindurch, nehmen mich gefangen, machen mich traurig, reißen mich hin. Ich kann stundenlang zuhören, wenn einer vorliest, erzählt. Die Psalmen der Kirche dringen mir ins Herz, je öfter ich sie höre. Ich spreche sie manchmal leise vor mich hin: »Und nähm ich die Flügel der Morgenröte und ließe mich nieder am Ende des Wassers, wird dort Deine Hand mich führen, Deine Rechte mich halten.«
    Oder wenn einer überzeugend zu reden versteht. Mein Vater zum Beispiel, wenn er sich auf ein Referat für die Partei vorbereitet und wir zuhören müssen. Ganz klar wird mir dann, was er will. Dass der Einzelne sich der Idee unterordnen muss, dass Egoismus die große Gerechtigkeit aufhält, dass alle Kräfte nötig sind, um die glücklichere Welt zu bauen. Und Vater redet nicht nur. Zweimal in der Woche fährt er in die Zentrale nach Warschau. Er schuftet von früh bis in die Nacht. Wenn meine Mutter von einer größeren Wohnung zu reden anfängt, wird er wütend.
    Vorige Woche ist es mir mit Vater genauso ergangen wie gestern mit Janec. Ich sagte ihm, dass er die Kirche missversteht. Er sieht alles in ihr unter dem Blickwinkel der Macht. Ich wollte ihm sagen, dass er die Kirche nur aus der Sicht der Liebe verstehen kann. Aber ich bin gescheitert. Meine Worte zerplatzten wie Schneebälle an einer Betonplatte.
    Ich habe neben sein Leninbild das Foto von Maximilian Kolbe gehängt. Er hat nur gelächelt und gesagt: »Meinst du, dass der es schafft?«
    Meine Mutter arbeitet im Kombinat als Zeichnerin. Eine Art Maschine mit Stift und Lineal ist sie dort. Sie möchte es mit allen gut können. Mal geht sie zur Kirche, mal nickt sie beifällig, wenn Vater »Opium fürs Volk« wittert. Ich habe mich oft selbst gefragt, wieso ich eigentlich davon felsenfest überzeugt bin, dass Gott mehr ist als eine Erfindung der Menschen, dass Er existiert. Ich weiß keine Antwort. Ich glaube, es sind die Worte, die Schriften, die sich in mein Herz gebohrt haben. »Und nähm ich die Flügel der Morgenröte . . .«
    Vielleicht auch die, die das Wort leben. Wie Maximilian Kolbe. Aber wie will man das anderen erklären?
    Wenn ich mich im Spiegel anschaue, werde ich traurig. Zu viel Speck auf den Hüften, Schenkel wie Grubenstempel. Dann gehe ich nahe an den Spiegel heran, ganz nahe, schaue mir in die Augen, will sehen, was Andrzej sieht; aber es ist so, wie er sagt, man erkennt die Welt nur in den Augen des Anderen.

Der Mittwoch kam. Kristina hatte sich in der Schule beurlauben lassen und der Direktor hatte diesmal zugestimmt, sogar ohne ihr einen Vortrag über das törichte Tun ihrer Familie zu halten.
    Frierend warteten sie in der Morgenkälte auf Janec und Gronskis Auto. Die Großmutter ging hin und her, aufrecht und mit festen Schritten, trotz ihrer zweiundsechzig Jahre. In sich zusammengekrochen, lehnte Rosa, Kristinas Mutter, an einem Baum. Sie war rundlich. Wenn sie nebeneinander standen, sah man, wie sehr Kristina ihrer Großmutter glich. Schmaler, zarter als diese, aber doch die gleiche Haltung, der ähnlich straffe Gang.
    Wolf zerrte wild an der Leine. Kristina löste den Karabinerhaken am Halsband und lief mit ihm ein paarmal auf und ab.
    »Das sage ich dir«, Großmutter zeigte auf den Hund, »wenn es Schwierigkeiten macht den rüberzubekommen, dann bleibt er hier.«
    »Dann bleibe ich auch«, erwiderte Kristina. »Ich habe Wolf geerbt, er ist mein Hund.«
    »Und wie machst du das, wenn du hier bleibst?«
    »Wird sich schon finden. Ich bin ja kein Kind mehr.«
    »Hört auf euch zu

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