Kristina, vergiß nicht
dumpfes Gefühl der Trauer wich einer ruhigen Heiterkeit.
»Komm«, sagte sie zur Mutter, »lass uns noch einmal musizieren.«
»Was kann ich schon?«, zierte sich die, setzte sich aber dann doch ans Klavier. Kristina suchte Noten heraus.
Trotz der missbilligenden Blicke von Großmutter spielte Janec auf seiner Mundharmonika mit. »Ist lange her, dass wir drei miteinander gespielt haben«, sagte Janec.
»Wird vielleicht lange dauern, bis es wieder so weit ist«, fügte Mutter hinzu.
Sie reisten einen Tag später als die Donatkas. Tage vorher schon hatte Gronski ihnen die Kisten zur Bahn gefahren. Sorgfältig wurde jedes Stück mit der Liste verglichen, der Zoll wurde berechnet, aber zu zahlen waren nur ein paar Zlotys für eine Kristallvase, die über das erlaubte Maß hinausging. Mutter war in Warschau gewesen, hatte die Durchreisegenehmigung durch die DDR geholt, den Übernahmeschein von der Deutschen Botschaft bekommen und hatte beim Staatlichen Reisebüro die Fahrkarten und Platzkarten bestellt. Die Fahrtkosten waren längst von Kristian bezahlt worden und sie brauchten nur die Bankbestätigung der Überweisung vorzulegen. Auf die Pässe hatte sie überraschend in der Kreisstadt nur zwei Stunden warten müssen. Sie zahlte die fünftausend Zlotys Passgebühren für jede Person, eine stolze Summe. »Ach, Sie sind die Frau mit dem Hund und den bis auf den Zehntelmillimeter genauen Fotos?«, hatte der von der Miliz im Passamt gesagt und geschmunzelt. Offensichtlich hatte sich Großmutters Mut herumgesprochen.
Das Telegramm, das Rosa ihrem Mann geschickt hatte, musste längst angekommen sein. »Ankommen in Braunschweig am 16. Februar 1971 neunzehn Uhr zehn. Mutter, die Kinder, deine Rosa.«
»Genügt es nicht, wenn Sie allein unterschreiben? Ist billiger«, schlug der Postbeamte vor. Aber sie blieb dabei: Mutter, die Kinder, deine Rosa.
»Wundert mich, dass Sie nicht noch den Hund dazuschreiben«, sagte der Postbeamte.
Zuerst waren alle sehr aufgeregt. Sie schrien sich gegenseitig an. Hatten sie alle Koffer, Kartons, Bündel, Taschen? Bekommen sie einen guten Platz? Erreichen sie den Schnellzug aus Warschau in Poznan? Wie geht es an der Grenze?
Der Zug hatte schon fast Bydgoszcz erreicht, als sie endlich ein beinahe leeres Abteil gefunden und all ihr Gepäck verstaut hatten.
Wolf, der damals, als sie ihn von Warschau mitgebracht hatten, im Zug wild und ungebärdig gewesen war, gab sich wie ein alter Reisender, rollte sich friedlich in der Nähe der Heizung zusammen und blinzelte nur gelegentlich, wenn der Zug hielt.
Großmutter nannte an jedem Bahnhof die ehemals deutschen Namen der Städte. Das ist Bromberg. Jetzt kommt Hohensalza, Gnesen, bald sind wir in Posen. Auf den Bahnhofsschildern war indessen schon die Farbe abgeblättert, so lange stand schon Bydgoszcz, Inowroclaw, Gniezno, Poznan darauf.
Als ein hitziger junger Mann mit ihr über die »Hitler-Bezeichnungen« diskutieren wollte, da war sie jedoch klug genug ihm zu antworten: »Wissen Sie, Freundchen, so ändert sich die Welt. Als ich geboren wurde, da stand unser Haus in Konitz. Ich kam aus der Schule, da schrieb der Lehrer Chojnice unter mein Zeugnis. Mein Sohn hat wieder Konitz in den Papieren stehen, meine Enkelin Chojnice.«
»Dabei wird’s bleiben«, antwortete der junge Mann. »Der Warschauer Pakt, unser Bündnis! Da wird sich jeder Aggressor hüten!«
»Aber sicher wird er das, Freundchen«, begütigte Großmutter. »Und außerdem, ich bin eine alte Frau. Was weiß ich?«
»Wie ist Ihre Familie eigentlich nach Polen gekommen, Mütterchen?«, fragte der junge Mann.
»Ist eine schlimme Geschichte. Konnte auch nicht gut gehen, wenn es eine Gerechtigkeit gibt.«
»Mit Hitler etwa?«
Sie lachte.
»Mit Hitler? Nein, nein. Ich sagte Ihnen doch, ich bin schon hier geboren. Mein Großvater kam 1887 in die Gegend von Konitz. Er erwarb einen Hof, der einem Polen abgekauft worden war.« Sie dachte eine Weile nach, verbesserte sich dann aber: »Na ja, abgekauft ist nicht das richtige Wort. Bismarck hat damals an die dreißigtausend Polen vertreiben lassen. Entschädigt hat er sie zwar, aber sie mussten ihr Haus, ihr Land verlassen, in dem sie oft schon seit Generationen wohnten.«
»Mit Geld kann man nicht alles kaufen«, sagte der junge Mann.
»Lag kein Segen auf diesem Gesetz. Mein Großvater hat das irgendwie geahnt. Hat seine beiden Söhne Berufe lernen lassen. Keiner sollte auf den Hof.«
»Und Ihr Mann, war das auch ein
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