Kristina, vergiß nicht
Deutscher?«
»Ja. Der kam aus dem Seengebiet, aus Masuren. Liebenberg hieß das Nest früher. Die Bienmanns sind zu Napoleons Zeiten eingewandert. Waren ursprünglich an der Mosel zu Hause, eine alte Zimmermannsfamilie. Mein Schwiegervater Lukas trug noch einen goldenen Ring im Ohr. Den hatte ihm sein Großvater Friedrich Bienmann selbst durchs Ohrläppchen gezogen. Waren weit und breit bekannte Handwerker, die Bienmanns. Aber Windhunde waren sie auch.«
»Eigentlich sind Sie doch Eingesessene, Autochthonen, gewesen«, sagte der junge Mann. »Wieso haben Sie dann die Ausreise bewilligt bekommen?«
»Ja, Jungchen, weil ich mich mit den Gesetzen auskenne. Ich bin Deutsche und habe es gesagt, geschrieben, telegrafiert, jedes Mal, wenn ich die polnische Staatsbürgerschaft annehmen sollte. Bis nach Warschau habe ich geschrieben.«
»Verstehe das, wer will, ich nicht. Was sagst du dazu?«, wandte sich der junge Mann an Janec.
Der zuckte die Achseln. »Mach was dran. Aber mein Vater ist drüben. Deshalb ziehen wir hin.«
»Eigentlich müsstest du als Pole das doch verstehen«, sagte Großmutter. »Ich will dir noch mal mit dem alten Bismarck kommen. Hat die polnische Sprache verboten. Mit sechs kamen sie in die Schule, die kleinen Würstchen, kein Wort Deutsch konnten sie. Die Lehrer durften nicht polnisch sprechen. Deutsche Lehrer, versteht sich. Hakatisten nannten sie sich, die die Polen zu Deutschen machen wollten. In den Ämtern nur Deutsch, Polen unter die deutschen Soldaten gemischt und ein paar Jahre unter Kaisers Fahnen. Sollten so werden wie bei den Düppeler Schanzen, als 1864 die Preußen gegen die Dänen zogen. Und wer hat die Schanzen erstürmt? Das 18. Regiment. Lauter Polen. Für Preußens Gloria.«
»Pole bleibt Pole«, antwortete der junge Mann stolz.
»Genauso hat es der Abgeordnete Janiszewski des Posener Nationalkomitees in der Frankfurter Nationalversammlung gesagt. ›Ihr habt die Polen verschluckt, aber verdauen werdet ihr sie bei Gott nicht.‹« Großmutter sah den jungen Mann mit aufgerissenen Augen an.
Er erwiderte: »Sie kennen sich aber aus in der Geschichte. Aber was soll das Stochern in der Vergangenheit?«
»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Sie als Pole das verstehen müssen. Pole bleibt Pole. Gut. Aber deutsch bleibt deutsch!«
»Na ja«, sagte der junge Mann.
»Was soll schon dran sein?«, fragte Kristina. »Denken Sie doch mal an Südamerika. Oder an die USA. Wo kommen die Leute denn her, die heute gute Amerikaner sind? Aus Polen, aus Italien, aus Irland. Werden die nicht auch sagen, Amerikaner bleibt Amerikaner?«
Das Gespräch verstummte. Kristina verfolgte auf der Karte die Fahrt des Zuges. Seit sie damals die große Bahnfahrt zu Onkel Wiktors Beerdigung nach Warschau gemacht hatte, war sie nicht mehr mit der Eisenbahn gefahren.
»Wir sind gleich in Poznan.«
»Posen«, sagte Großmutter.
»Poznan bleibt Poznan«, trumpfte der junge Mann auf. »Schließlich steht 1974 auf dem Kalender und nicht 1944.«
»Na, von mir aus«, lenkte Großmutter ein.
Die weitere Fahrt verlief eintönig. An der polnisch-deutschen Grenze hielt der Zug eine halbe Stunde. Alles wickelte sich ohne Schwierigkeiten ab, die genaue Prüfung der Pässe, der Papiere, zur Stichprobe ein kurzer Blick in Kristinas Tasche, unentschlossenes Hinundherwenden der Flöte. »Spielen Sie selber?«
»Ja, warum?«
»Ausführung von alten Instrumenten kostet Zoll.«
»Auch wenn es meine eigene Flöte ist?«
»Nein.«
Der Zollbeamte drehte sich um und fragte seinen Kollegen: »Was meinst du?«
»Lass sie spielen, dann weißt du’s«, lachte der.
»Na, zeig, ob du spielen kannst.«
»Hier?«, fragte Kristina unsicher.
»Wo sonst? Einen Konzertsaal können wir der jungen Dame nicht bieten.«
Kristina schob die Flötenteile ineinander, benetzte mit der Zunge ihre Lippen und blies, was ihr gerade einfiel.
»Aha, Mozart, Zauberflöte«, erkannte der Zollbeamte, nickte anerkennend, drehte sich ohne weitere Fragen um und pfiff die Arie des Tamino dort weiter, wo Kristina aufgehört hatte.
Viel strenger ging es in der DDR zu. Zöllner durchsuchten genau das Gepäck. Die Pässe wurden von Volkspolizisten sorgfältig geprüft und endlich gestempelt. Kein Scherz, kein freundliches Wort, kurz angebundene Befehle.
»Ich hatte mir die erste Begegnung mit Deutschen in Deutschland anders vorgestellt«, seufzte Großmutter. Sie bekam in den nächsten Stunden noch reichlich Gelegenheit den Vopos zu begegnen. In
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