Kristina, vergiß nicht
fragte Kristina.
»Kannst dem Stanek sagen, er soll sich die Uhr bei mir abholen«, antwortete sie.
»Und das viele Geld?«
»Bevor er sich ein Auto kauft, zahlt er es mir zurück, wenn er will.«
»Und wovon leben wir diesen Monat, Großmutter?«
»Was weiß ich, Kind. Vielleicht hilft deine Mutter uns wieder aus. Sie hat ein gutes Herz.«
»Scheint wohl in der Familie zu liegen, das mit dem guten Herzen«, lachte Kristina.
Großmutter suchte nach einem Platz für die Uhr. Schließlich nahm sie das große Familienfoto von der Wand und hängte den Regulator an den Haken. Sie zog das Werk auf. Wolf beäugte misstrauisch den braunen, tickenden Kasten. Inzwischen hatte Großmutter auch das Schlagwerk aufgezogen. Blechern hämmerte es die Stunde. Wolf machte einen riesigen Satz rückwärts, klemmte den Schwanz zwischen die Beine und jaulte jämmerlich.
»Still!«, fuhr Großmutter ihn an. »Sie wird ja nur ein paar Tage hier hängen. Dann fahren die Donatkas los.« Sie legte den Schlüssel in den Uhrenkasten und hakte die Tür ein. Eine Weile starrte sie auf das Pendel, das gleichmäßig hin und her schwang.
»Die Zeit vergeht schnell«, seufzte sie. »Die Donatkas werden bald in Deutschland sein. Und wir?«
Kristina schwieg dazu. Ihr war das schon recht, dass die Ausreisegenehmigung nicht an ihre Adresse gekommen war.
Die Klasse hatte am nächsten Tag sechs Stunden Schule. Literatur, das Lieblingsfach für viele, stand für die beiden letzten Stunden auf dem Plan. Die Zabinska wollte mit ihnen den sozialistischen Realismus besprechen. Sie war wohlvorbereitet, wie stets. Ihre Leseproben hatte sie sorgsam ausgewählt, die Köder kunstvoll gelegt, die die Schüler zum Gespräch reizen sollten. Aber daraus wurde nicht viel. Leocardia gab zwei-, dreimal eine dumme Antwort.
»Was ist los?«, fragte die Zabinska scharf. Sie wurde ärgerlich. Das war nicht ungefährlich. Die Schülerinnen und Schüler gaben sich einen Ruck und setzten sich aufrecht. Aber damit schienen die Energien endgültig verbraucht.
»Interessiert Sie das nicht, Krisek, Andrzej, Kristina?«
Krisek räkelte sich auf der für ihn viel zu kleinen Bank.
»Es ist, verzeihen Sie, wir sind gestern in eine Feier geraten. Es ist ziemlich spät geworden.«
»Feier?«
»Ja. Donatkas haben die Ausreisegenehmigung in den Westen erhalten, wissen Sie. Und er wurde gestern dazu noch fünfzig Jahre alt.«
»Sie auch, Janina?«
Janina stand auf. Sie war rot geworden. Was würde die Zabinska sagen?
»Reisende Tauben soll man nicht halten.« Das klang spöttisch. Aber dann fügte sie warm hinzu: »Ich verstehe Sie zwar nicht, Janina, wünsche Ihnen aber von Herzen Glück.«
»Danke«, sagte Janina.
»Und wenn ich Ihnen noch einen guten Rat geben darf und übrigens auch Ihnen, Kristina, wenn Ihre Großmutter Sie einmal davonschleppt: Vergessen Sie die polnische Sprache nicht. Ich weiß, dass Ihre Eltern darüber anders denken. Aber verstehen Sie, wir brauchen Menschen, die sich verständigen können. Je mehr das sind, umso größer ist die Chance.« Sie wechselte nun vom Polnischen ins Deutsche und sagte: »Die Chance zur Bridderlichkeit.«
Sie legte die schwarze Kladde mit ihren Vorbereitungen zur Seite. »Ich werde Ihnen aus Gorki vorlesen. Aber feiern Sie nicht so häufig, wenn ich bitten darf.«
Wenn die Zabinksa las, dann konnte Kristina Zeit und Stunde vergessen und nicht nur ihr ging das so. Als zum Schulschluss die Glocke schrillte, brach keineswegs der übliche Sturm los. »Sie ist einfach in Ordnung«, sagte Krisek, der ein Stück Weg mit Kristina und Janina gemeinsam hatte. »Noch so eine Zabinska und ich hätte Lust Lehrer zu werden.«
Kristina sah gleich, dass etwas Besonderes los war. Wolf sprang ihr schon an der Hausecke entgegen, lief zur Haustür voraus, hetzte zurück, duckte sich und schlug aufgeregt mit dem Schwanz. Das letzte Wegstück rannte Kristina mit ihm um die Wette. Außer Atem, öffnete sie die Tür. Um den Tisch saßen Großmutter, Janec und ihre Mutter. Eine weiße Decke hatte Großmutter aufgelegt und die Reste des alten, kostbaren Geschirrs aus dem Schrank geholt.
»Habe ich einen Geburtstag vergessen?«, fragte Kristina verwirrt. »Was tut ihr hier? Habt ihr heute frei?«
»Ich habe Rosa und Janec von der Poststation aus angerufen.« Großmutter stand auf. Erregung hatte ihr rote Flecken auf die Backen gemalt. »Es ist so weit. Heute um zehn ist die Postkarte angekommen. Man hat uns erlaubt auszureisen.«
Also doch!
Weitere Kostenlose Bücher