Kristina, vergiß nicht
Kohlen stimmen«, das war der erste deutsche Satz, den er fehlerfrei sprach. Janina kam nur alle vierzehn Tage nach Hause. Sie wollte in einer Internatsschule die mittlere Reife machen.
Kristina hatte sich im Gymnasium eingelebt. Vor allem das Orchester war ein guter Einstieg für sie. Hans-Jörg Florin zeigte sich kameradschaftlich, auch als er feststellen musste, dass Kristina von ihm nichts lernen konnte. Er war im Orchester eingespielt und Doktor Schmuda ließ ihm weiterhin die erste Flötenstimme. Einmal war sie von ihm zu einer Party eingeladen worden. Aber sie hatte eine dringende Arbeit vorgetäuscht. In Wirklichkeit scheute sie sich zu sagen, dass sie in der Lützmannstraße wohnte.
Die Lützmannstraße war nämlich in der ganzen Stadt bekannt. Die einen sagten: das Asozialenviertel. Und die anderen: Da sind die sozialen Randgruppen untergebracht. Sie meinten dasselbe: Geh nicht im Dunkeln ohne Messer durch die Lützmannstraße.
Kristina hatte längst gesehen, dass der Begriff Asoziale sehr viele verschiedene Menschen in einen Topf warf. Da war die Wermutbrigade, ältere Männer und Frauen. Jeden Pfennig setzten sie in billigen Wermutwein um und waren meist betrunken. Da war die junge Frau Walzleben, deren Mann sie mit drei Kindern und einer Menge Abzahlungsverträgen sitzen gelassen hatte. Kinder bestimmten überhaupt das Bild der Lützmannstraße. Ungekämmte und wohl frisierte, dreckige Rotznasen und solche, die täglich ein Päckchen Tempos bekamen. Kleine Jungen, die die viel zu großen Jacken ihrer älteren Brüder trugen, und kleine Mädchen in schicken Wollmänteln. Viele größere Kinder gingen unregelmäßig zur nahe gelegenen Sonderschule, die Kleinen versuchten es zunächst in der Grundschule. Beide Gebäude waren aus dem vorigen Jahrhundert und die jungen Lehrer, die zugewiesen wurden, meldeten sich meist bald wieder weg. Sie gaben familiäre Gründe an, meinten aber die schwierigen Verhältnisse.
Kristina fiel es nicht schwer zu sehen, wie unterschiedlich die Leute waren, die da in den Blocks neben ihnen wohnten. Weil sie nah bei ihnen leben musste, erkannte sie die feineren Strukturen der Wirklichkeit, die auf weite Entfernung hin eben »asozial« heißt. Und die Leute der Stadt legten der Lützmannstraße gegenüber auf weitere Entfernung besonderen Wert.
In einer Beziehung unterschied sich die Lützmannstraße zehn bis vierzehn, das Übergangswohnheim, gewaltig von der Lützmannstraße sechzehn bis vierunddreißig. Denn während die höheren Nummern nach einer Samstagnacht voll Geschrei, Gelächter und Geschimpfe sonntags noch den Rausch ausschliefen, machten sich die Aussiedler auf den Weg zur Kirche. Die meisten gingen in die Messe nach Sankt Bonifatius, etwa eine Viertelstunde Weg, eine kleinere Zahl besuchte weniger regelmäßig den Gottesdienst der weit gelegenen calvinistischen Apostelkirche.
Kristina hatte am ersten Sonntag gedacht, sie sei in die falsche Kirche geraten. Sie hatte immer gehört, dass die Messe in der katholischen Kirche auf der ganzen Welt gleich gefeiert werde. Aber das stimmte nicht. Kein Wort Latein, kein Weihrauchduft, selbst der vertraute Geruch des Mottenpulvers drang ihr nicht in die Nase. Die beiden Messdiener trugen statt der bunten Röcke schwarze Mäntel, kein Ave zum Beginn oder zum Schluss. Irgendein Mann teilte mit dem Priester die Kommunion aus. Kein einziges Lied konnte sie mitsingen.
Aber sie kannte den Kaplan. Der hatte sie ein paar Tage nach ihrer Unterbringung im Wohnheim besucht und ihren Namen auf eine Karteikarte geschrieben. Eine kleine Kartenskizze des Stadtteils hatte er mitgebracht. Darauf war der Kirchweg mit grünem Filzstift eingezeichnet. »Damit es Ihnen nicht ergeht wie Herrn Pollex. Der ist vor einem Jahr hier auf das Dach des Hauses gestiegen und wollte nach dem Kirchturm Ausschau halten. Die Schornsteine der Fabrik, das Hochhaus der Sparkasse hat er gefunden. Aber keinen Kirchturm. St. Bonifatius hat nur einen kleinen Turm.«
An diesem Sonntag waren Großmutter und Kristina um acht Uhr in die Messe gegangen. Wie sie es gewohnt waren, blieben sie nach dem Schlusslied eine Weile vor dem Portal stehen. In Polen hatten die Leute nach der Messe ein paar Minuten Zeit für ein Schwätzchen. Der Pfarrer und die Kapläne mischten sich unter die Menschen und sprachen mit ihnen. In Sankt Bonifatius hatten es alle eilig. Kaum einer grüßte den anderen, keiner blieb stehen.
»Komm, Großmutter. Lass uns gehen.«
Großmutter zog ihr
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