Krokodil im Nacken
freundlich, und einmal versuchte er, Lenz trotz des Redeverbots etwas zuzuflüstern. Wie sie da gleich auffuhren, ihre beiden uniformierten Bewacher, die sich auf der Bahn einen ruhigen Tag machen wollten. »Nix blabla, nix blabla!«, empörte sich der Chef der beiden, ein dickwampiger Polizeihauptmann mit schlauem Bauerngesicht, der unentwegt kuckte, als würde er ihnen all ihre Untaten und Fluchtpläne bereits vom Gesicht ablesen. Es beleidigte ihn offensichtlich, dass seine Anordnung nicht respektiert wurde. Der andere, klein, spitznasig und misstrauisch, stieß ins gleiche Horn; wollte sich bei seinem Vorgesetzten wohl beliebt machen, indem er ständig irgendwelche Drohungen vor sich hin murmelte, ganz egal, ob die beiden, an die sie adressiert waren, ihn verstanden oder nicht.
Später schafften die beiden Gefangenen es aber dennoch, ein Gespräch anzuknüpfen, wenn auch auf sehr kuriose Weise. Der Lange begann damit. Erst summte und sang er eine Zeit lang verträumt Am Brunnen vor dem Tore vor sich hin, als wollte er damit seine Langeweile bekämpfen, dann begann er, der Melodie einen eigenen, an Lenz gerichteten Text zu unterlegen: »Mein Name ist Detlef Dettmers, ich komme aus Berlin …« Die beiden Beamten, die kein Wort verstanden, blickten sich an, als fragten sie sich, ob dieses Gesumme und Gesinge auch unter »Redeverbot« fiel, zuckten dann aber die Achseln: Sollte er ruhig singen, dieser lange Kerl, wenn es ihm Spaß machte.
Mutig geworden gestaltete der Lange weitere Volkslieder neu und Lenz antwortete auf gleiche Weise. Ihre Begleiter staunten ein bisschen über diese beiden sangesfreudigen Deutschen, anscheinend aber gefiel ihnen ihr Geträller. Von Lied zu Lied lächelten sie milder, wiegten schon mal im Takt die Köpfe oder wippten lustig mit den Füßen.
Bald stellten Lenz und dieser Detlef Dettmers neben ihrer Berliner Herkunft noch weitere Gemeinsamkeiten fest: Dettmers war in der Pankower Johannes-R.-Becher-Straße aufgewachsen, die früher Breite Straße geheißen hatte und in der es eine Entbindungsstation namens Maria Heimsuchung gab, in deren Register auch ein Manfred Lenz verzeichnet war; Dettmers war Philosophiestudent und hatte ein paar Semester in Leipzig »abgerissen« und auch Lenz hatte dort studiert. Belustigt über ihre »komische Oper« und die festgestellten Gemeinsamkeiten grinsten sie einander zu – was für ein Zufall, dass sie ausgerechnet hier zusammentreffen mussten! – und »unterhielten« sich weiter: Der lange Student hatte mit einem gemieteten Motorboot in die Türkei verschwinden wollen, ein bulgarisches Zollboot hatte ihn aufgebracht. Er litt nicht sehr darunter, nahm das Ganze als Abenteuer, hatte weder Frau noch Kind, war gespannt darauf, wie alles weiterging. Fünf Tage hatte er in Burgas zugebracht; fünf Tage, in denen er von nichts anderem als einem frisch gezapften kalten Bier in einem kühlen, abendlichen Biergarten geträumt habe. »Am besten irgendwo am Wannsee.«
Bis in die Sofioter Effektenkammer, in der sie ihre Zivilkleidung ablegen mussten und ausgewaschene blaue Schlosseranzüge als Gefangenenkleidung bekamen, trällerten sie einander ihre Botschaften und Geschichten zu, dann wurden sie in verschiedene Zellen eingewiesen und Lenz, wie es schien, drei Tage lang von aller Welt vergessen. Keine einzige Vernehmung, keine Information über den Verbleib von Hannah und den Kindern. Dafür drei Tage und Nächte Mutlosigkeit und Gewissensqualen und immer wieder Herzbeklemmung und Schweißausbrüche und endloses Gequatsche mit Stepan, dem bulligen jungen Sofioter Meisterboxer, der in den Westen hatte fliehen wollen, um Profi zu werden, und den die Schließer trotz seiner vereitelten Fluchtabsichten verehrten wie einen jungen Gott; drei Tage und Nächte das wehleidige Gesicht von Sefik, dem großäugigen jungen Türken, der – schon wieder ein eifersüchtiger Messerheld! – den Liebhaber seiner Frau erstochen hatte und aus Angst vor der Strafverfolgung nach Bulgarien geflohen war. Von morgens bis abends beteuerte er, kein Türke, sondern nur türkischer Jugoslawe zu sein. In der Türkei stehe auf seine Tat die Todesstrafe; würde man ihn nach Jugoslawien ausliefern, bestünde Hoffnung auf lebenslänglich.
Stepan, der ein wenig Türkisch verstand, übersetzte Lenz Sefiks Worte in ein Hände-und-Füße-Deutsch-Russisch-Bulgarisch, glaubte aber nicht, dass dem jungen Türken noch zu helfen war. »Spricht wie Istanbul«, flüsterte er Lenz einmal zu.
Sefik
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