Krokodil im Nacken
tröstete. Ob das nun die süßen bulgarischen Kekse waren, die Stepans Mutter über die Schließer in die Zelle schickte, seine Zigaretten oder die Zahncreme, die Lenz sich in Ermangelung einer Zahnbürste auf den Zeigefinger schmierte – was Stepan gehörte, gehörte auch Lenz. Ein Glücksfall für ihn, der wie ein nackter Mann hier eingeliefert worden war.
Von Stepan erfuhr Lenz, dass Nicken in Bulgarien Nein und Kopfschütteln Ja bedeute und dass Boxen der Sport sei, der am meisten zur Lebenstüchtigkeit erziehe. Einfach, weil man damit Reaktionsschnelligkeit trainiere. Als er erwischt wurde, sei er ja schon so gut wie in der Türkei gewesen, beteuerte Stepan immer wieder. Wäre er nur ein wenig schneller gelaufen, würde er jetzt um Dollars kämpfen. Allein seine verfluchte Trainingsfaulheit sei schuld daran, dass er jetzt hier einsaß.
Worte, die Lenz an Pepek erinnerten. Stimmte denn mit ihm, Lenz, etwas nicht? Stepan und Pepek gaben sich selbst die Schuld an ihrer Inhaftierung, er aber, Manfred Lenz, hielt sich nach wie vor für unschuldig. Reagierte er nur deshalb so, weil er Angst vor dem hatte, was nun auf Hannah, die Kinder und ihn zukommen würde? War es die Scham, seinen Kindern einen solchen Schmerz angetan zu haben, die ihn davor zurückscheuen ließ, sich die Wahrheit einzugestehen? – Aber Pepek und Stepan waren beim Grenzübertritt festgenommen worden, auf frischer Tat, wie es so schön hieß; Hannah, die Kinder und er hatten die Grenze noch nicht einmal von fern gesehen. Was hätte da nicht noch alles geschehen können! Ohne Leiche kein Mord – ohne Grenze keine Flucht! Durfte man sie denn für etwas bestrafen, was sie noch gar nicht getan hatten?
Am Nachmittag des vierten Tages wurde Lenz dann endlich zur Vernehmung geholt.
Es geschah wie nebenbei. Der Schließer mit dem schiefen Gesicht, der sich so oft von Stepan Zigaretten schenken ließ, stand in der Tür, scherzte unterwürfig mit dem Meisterboxer und winkte schließlich Lenz heraus: »Chef!«
Alle Vernehmer wurden »Chef« gerufen. In den Tagen zuvor hatte Lenz immer wieder darum gebeten, ihn doch endlich zu seinem »Chef« zu bringen, und dazu Handbewegungen gemacht, die »Sprechen« bedeuten sollten. Doch hatte er dafür nur unwillige Blicke geerntet. Wann die Vernehmer die Untersuchungsgefangenen zu sich bestellten, bestimmten ganz allein sie. Und waren sie, die Schließer, etwa dazu da, die Wünsche der Häftlinge weiterzuvermitteln?
Lenz hätte froh sein müssen, dass die Zeit der Ungewissheit vorüber war. Durch die Plötzlichkeit jedoch, mit der er gerufen wurde, fühlte er sich nicht erlöst, sondern überrumpelt. Auf seiner Matratze liegend, hatte er sich immer wieder aufgesagt, was er auf all die Fragen, die man ihm stellen würde, antworten wollte – in diesem Augenblick war alles weg.
Das Schiefgesicht führte ihn in einen kleinen, mit allerlei Möbeln voll gestellten Büroraum. Das Büro einer altmodischen Spedition hätte so aussehen können. Überall Akten, hinter Glas ein bisschen privater Nippes, auf dem Fußboden ein schon ziemlich abgetretener, bunter Teppich, hinter dem Schreibtisch ein hoch gewachsener, dunkelhaariger Mann, der seine Zigarette in einer Zigarettenspitze stecken hatte. Mit der einen Hand wedelte er das Schiefgesicht fort, mit der anderen wies er Lenz an, auf dem sehr weit von ihm entfernt stehenden Hocker Platz zu nehmen. Danach blätterte er genüsslich rauchend in einer Akte.
Gelegenheit für Lenz, ihn zu studieren. Er registrierte einen abgetragenen braunen Straßenanzug, der bewies, dass sein Träger auf Äußerlichkeiten nicht viel Wert legte, ein paar intelligente Augen und einen dichten Schnurrbart, an dem ab und zu gekratzt wurde, weshalb immer ein paar Härchen hoch standen, was dem schmalen Kopf etwas Katerhaftes verlieh. Auf fünfunddreißig bis vierzig schätzte er sein Gegenüber; es machte auf ihn einen ganz vernünftigen Eindruck.
Er sei Untersuchungsrichter der bulgarischen Staatssicherheit und habe in Berlin studiert, begann der Chef das Gespräch, nachdem er die Akte ein bisschen von sich fortgeschoben hatte, also könnten sie Deutsch miteinander reden. Zuerst müssten sie allerdings die Personalien aufnehmen.
Höflich befragte er Lenz nach seinen Daten und trug jede Antwort bestätigend nickend, als habe er das alles schon vorher gewusst, in ein umfangreiches Formular ein. Als er damit fertig war, lehnte er sich zufrieden seufzend in seinen Stuhl zurück, musterte Lenz
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