Krokodil im Nacken
nur eine Rolle in einem schlecht ausgedachten, völlig unlogischen Theaterstück und beobachtete sich dabei selbst.
Als es nichts mehr zu erzählen gab, legte Pepek sich quer vor die Tür, weil unter der Zellentür ein klein wenig kühlere, wenn auch nicht frischere Luft in die unerträglich heiße Zelle drang. Dabei drückte er den Mund an den Spalt unter der Tür, als sauge er an einer Wasserpfeife, und zwinkerte Lenz ein ums andere Mal listig zu, als wollte er ihm anraten, es ihm gleichzutun.
Gleich hinter Pepeks Kopf, links neben der Tür, stand ein grüner Plastikeimer mit Deckel: ihr Urinal. Stojan hatte bereits hineingeschifft und Nentscho ebenfalls und irgendwann würde auch er, Lenz, sich nicht mehr genieren. Rechts von der Tür, zu Pepeks Füßen, in möglichst weiter Entfernung vom Pinkeleimer, war die Wasserkaraffe abgestellt. Ebenfalls aus grünem Plastikmaterial, höher als der Eimer und sehr bauchig. Trank einer von den dreien daraus, legte er sich die Karaffe quer über den Arm und hob den Ellenbogen an, bis das Wasser aus der Öffnung sprudelte. Auf diese Weise musste er den Mund nicht an die Öffnung legen.
Lenz trank nicht von dem Wasser, obwohl ihm vor Hitze und Durst die Zunge am Gaumen klebte und sein Verstand ihm sagte, dass er trinken musste; er beobachtete nur alles wie gelähmt.
Irgendwann später, als Lenz schon längst nicht mehr wusste, ob der Schweiß, der da an ihm herabrann, mehr von der Hitze oder seiner Angst um Hannah und die Kinder verursacht war, kam der piratengesichtige Nentscho von seiner Matratze gekrochen, kniete sich vor ihm hin und öffnete mit geheimnisvollem Lächeln die rechte Hand. Ein paar Apfelkerne und zuvor durchgekaute und getrocknete Brotkügelchen lagen darin. Als Lenz nicht begriff, was er damit sollte, legte Nentscho einen Finger an den Mund, lächelte noch geheimnisvoller und klappte eine Matratze hoch. Ein in die schon ein wenig morschen Dielen geritztes Mühlespiel wurde sichtbar; Apfelkerne und Brotkügelchen ersetzten die schwarzen und weißen Steine.
Nentscho: »Besser als immer nur denke!«
Er sollte mit ihm Mühle spielen? Jetzt? In dieser Situation? Lenz wollte abwehren, doch der Bulgare wartete erst gar keine Antwort ab, legte ihm die Brotkügelchen in die Hand und setzte den ersten Apfelkern. Und da spielte er, Manfred Lenz, der nicht wusste, wo man seine Frau und seine Kinder hingebracht hatte, keine Stunde nach seiner Verhaftung nackt bis auf die Unterhose in einem dreckigen, stinkigen, schwülheißen Verlies, wie es der Graf von Monte Christo vor seiner Flucht auch nicht schlechter kennen gelernt haben konnte, mit einem anderen Nackten Mühle. Und ein ebenfalls nackter eifersüchtiger Messerstecher sah ihnen zu, während ein nackter Beatles-Fan, der keinen Vater mehr hatte und zur Mutter wollte, die ihn einst im Stich gelassen hatte, damit beschäftigt war, unter einem Türspalt hindurch ein wenig kühlere Luft anzusaugen.
Er verlor jedes Spiel und war froh, als Stojan sich endlich erbarmte und sich zu dem von seinem schwachen Gegner gelangweilten Nentscho setzte. Nun durfte er so tun, als studiere er die klugen Spielzüge der beiden Bulgaren, um von ihnen zu lernen, während er sich insgeheim fragte, weshalb er denn jetzt nicht einfach losheulte. Weil er erwachsen war? Sich als Mann erweisen musste? Weil er sich nicht in Selbstmitleid ergehen durfte, sondern zuallererst an Hannah und die Kinder zu denken hatte?
Er sah zu und horchte in sich hinein und musste plötzlich daran denken, wie Kalle Kemnitz und er als Kinder in den Müggelbergen Eidechsen gefangen hatten. Für seinen Küchenzoo. Jedes Mal, wenn er eine davon in der Hand hielt, konnte er fühlen, wie das kleine Herz vor Aufregung raste. Nun hatte eine solch riesige Hand die Kinder, Hannah und ihn ergriffen, schlugen ihre Herzen nicht weniger ängstlich …
Bilder drängten sich ihm auf, die er nicht aushalten konnte; er schlug die Hände vors Gesicht und überließ sich seinen Gefühlen.
In der Nacht schlief Lenz nur wenige Minuten. Zurück aus diesem kurzen wirren, fieberhaften Schlaf, stieg Übelkeit in ihm hoch, so eng war es zu viert auf zwei Matratzen, so schweißdurchtränkt dünsteten sie vor sich hin, so sehr stank es nach Urin, weil Pepek den Deckel nicht richtig auf den Eimer gelegt hatte. Es juckte ihn plötzlich überall, und er vermutete Flöhe oder Läuse in den Matratzen und begriff, weshalb so rigorose Maßnahmen wie das Scheren von Glatzen hier notwendig
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