Krokodil im Nacken
dafür.
Auch der weißlockige Paule Richartz, der schon beim Kapp-Putsch dabei war und nach dem Krieg mit dem berühmten Schauspieler Heinrich George zusammen im Lager gesessen hatte, war eine besondere Nummer. Wie die müden, altershellen Augen aufzuleben begannen, wenn er jemanden gefunden hatte, der seine Lebensphilosophie noch nicht kannte, wie es ihn freute, zu einem »jungen Jesicht« reden zu dürfen. Mach dir nur keene Sorgen, so seine Erkenntnis aus »siebzich Jahren deutsche Jeschichte«, es bleibt ja doch allet, wie et is. »Wir Menschen sind Käfer, verstehste? Krabbeln hierhin, krabbeln dahin, von der Jeburt bis zum Tod. Mal fall’n wa auf ’n Rücken, denn strampeln wa ’n bisschen, bis et weiterjeht. Zum Schluss bleim wa liegen und werden wegjefegt.«
Paule war erst Sozialdemokrat, dann Kommunist, dann Nazi gewesen. »Irrtümer!«, entschuldigte er sich dafür. »Allet Irrtümer! Aber so isset eben: Erst wenn de dot bist, verstehste die Welt.«
Die spillrige Frieda Reinsch fand keine Entschuldigung für ihren großen Irrtum. Erst neunundvierzig sei sie, jammerte sie spätestens nach dem zweiten Bier, und schon eine vergessene alte Frau. Ihr Mann, das Schwein, habe schon seit Jahren ’ne Jüngere, ihre Tochter sei mitsamt Kindern und Schwiegersohn noch vor der Mauer in den Westen rübergezogen, sie aber, sie olle doofe Kuh, sei nicht mitgegangen. »Weil Justav ja trotz allem noch immer mein Mann is … und weil ick mir doch gerade erst ’nen neuen Wohnzimmerschrank jekooft hatte. Um det blöde Stücke Möbel hat ’s mir Leid jetan – und nu kann ick diesen verfluchten Klumpen Holz nich mehr ankieken, ohne heulen zu müssen.« Ihre Enkelkinder! Die werde sie ja nun vielleicht niemals mehr wiedersehen.
Lenz mochte sie, all diese Fritzes, Riekes, Paules und Friedas. Sie waren mit dem Leben nicht so gut fertig geworden wie der Schuhladenbesitzer Bessel, die Schieberin Else Golden, der Textilvertreter Bel Ami oder der Elektroladenbesitzer Herrmann Holms, litten an sich selbst und ihrer Zeit. Das machte sie sympathisch. Allzu oft aber durfte er ihnen nicht zuhören. Dann kroch ihm die Angst den Nacken hoch, eines Tages auch so ein lebendes Kneipenfossil zu sein. An diesem Abend allerdings hätte er sich gern in ihre Nähe geflüchtet. Heiligabend jedoch war Heiligabend, da machten, wie er aus eigener Erfahrung wusste, sogar die Wirte und Wirtinnen auf Familie. Also hatten alle Kneipen zu, und ihm blieb nichts anderes übrig, als langsam durch die leeren Straßen zu wandern und sich die Ohren rot frieren zu lassen. Nahm er die Hände aus den Manteltaschen, so nur, um eine von Tante Grits Astor zu rauchen.
Es gab einen Schlager: Fremder in der Nacht . War er das nicht, war er, Manfred Lenz, nicht der sprichwörtliche Fremde in der Nacht?
In der Lychener Straße hörte er plötzlich eilige Schritte hinter sich und fuhr herum. Eine junge Frau, ein bisschen schmuddelig angezogen, hielt sich dicht hinter ihm. Ganz außer Atem blickte sie sich immer wieder um. Hundert Meter hinter ihr ging ein gedrungen wirkender Mann, der offensichtlich auch gelaufen war, den Kragen seiner Joppe hatte er hoch gestellt, die Schirmmütze tief in die Stirn gezogen.
»Gehört der zu Ihnen?«
Die junge Frau schüttelte ängstlich den Kopf.
»Will der was von Ihnen?«
Die junge Frau antwortete nicht. Lenz machte noch ein paar Schritte, dann blieb er erneut stehen und blickte sich um.
Auch die Frau war stehen geblieben; der mit der Schirmmütze zündete sich unter einer Laterne eine Zigarette an.
»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein? Soll ich Sie nach Hause bringen?«
»Nein.« Eilig ging sie weiter und auch der Mann setzte sich wieder in Bewegung. Als er an ihm vorüberging, blickte Lenz ihm ins Gesicht, konnte aber keinerlei Auffälligkeiten entdecken. Das war einfach nur ein ziemlich kräftiger, breitschultriger Mann um die dreißig, der da, Zigarette in der behandschuhten Hand, Augen stur auf die Frau gerichtet, durch die Straßen wanderte. Vielleicht waren sie ja alle drei nur Fremde in dieser Nacht: zwei Männer und eine Frau, die nicht wussten, wohin.
Die Frau lief über den Helmholtzplatz, der Mann blieb an ihr dran. Lenz zögerte. Sollte er ihnen folgen? Aber wieso lief die Frau ausgerechnet über einen dunklen Platz, wenn sie Angst vor dem Mann hatte? Und wieso wollte sie sich nicht helfen lassen?
Er ging nur langsam weiter und verlor die beiden bald aus den Augen. Bis er sie wenig später wieder
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