Krokodil im Nacken
für Tag neue Fluchtversuche bekannt.
Was aber war es, das so viele dazu trieb, ihr Leben aufs Spiel zu setzen? War es allein der Wunsch zu leben, wie man leben wollte? Steckten, wie Seeler es sah, allein die fetteren Fleischtöpfe dahinter? Paule Richartz sagte, ein Staat, der seine Bürger mit Stacheldraht, Maschinenpistolen und Panzern zum Bleiben zwinge, habe von vornherein verloren. Das sei wie in der Ehe: »Sperrste deine Olle ein, damit se dir nich wegläuft, musste erst recht damit rechnen, bald einen anderen Herrn in deinem Bett zu finden.« Liefen also nur deshalb so viele weg, weil sie nicht eingesperrt sein wollten?
Dem RIAS traute Lenz nicht. Der Westen hatte die »Schandmauer« schlucken müssen; ohnmächtig vor Wut spie man Gift und Galle, nannte die »Sowjetzone« ein einziges KZ und die Grenzsoldaten, Kampfgruppenmänner und Volkspolizisten »Söldner Pankows«. Natürlich hatte man in vielem Recht, aber waren die Toten an der Mauer, sosehr ihr Schicksal auch erschreckte, denn tatsächlich »Freiheitskämpfer«? Selbst wenn es ihnen nicht um die Fleischtöpfe gegangen war, wenn sie tatsächlich nur nach ihrer eigenen Fasson selig werden wollten, so »kämpften« sie ja nur für ihre eigene Freiheit. Machte die Flucht Ete Kern oder Hanne Gottlieb zu Helden? War Pius ein Held, der vor der neu eingeführten Wehrpflicht in den Westen geflohen war und dort, wie es hieß, bei der Fremdenlegion gelandet war?
Hier Verteufelung, dort Heldenverehrung; war es nicht das Beste, keiner Seite zu glauben?
Ein Pärchen kam ihm entgegen, beide trugen sie kleine Geschenkpäckchen in den Händen. Das Mädchen lachte leise, der junge Mann blieb stehen und küsste sie lange. Eine hell erleuchtete U-Bahn donnerte über die Gleise, das Pärchen erschrak, lachte und lief weiter.
Lenz zündete sich eine Zigarette an und sah ihnen lange nach. Und morgen, was sollte er morgen mit sich beginnen? Im Bett bleiben, lesen, Radio hören, Zigaretten rauchen und Tante Grits Schinken verputzen? Er könnte ins Heim fahren, nachsehen, wer von den Jungen da war. Vielleicht konnten sie ja zusammen was auf die Beine stellen … Aber nein, er würde nicht ins Heim fahren! Der Seeler sollte nicht glauben, ihm wäre über Weihnachten heulerig geworden. Er würde dort ja auch niemanden antreffen, den er wirklich sehen wollte. Peter Lampe war längst entlassen und wohnte irgendwo in Lichtenberg draußen, Erwin Pietras traf sich seit neuestem jeden dritten Tag mit einem Reporter vom Neuen Deutschland – in diesen Zeiten wusste einer, der von drüben kam, natürlich ganz genau, welches die richtige Seite war – und mit Eddie hatte er sich beim Tapezieren gestritten. Der lebte in einer ganz anderen Welt, hatte keine Interessen außer Bier, Mädchen und irgendwann ’ne schöne Wohnung. Da konnte ringsherum alles zusammenbrechen, Eddie Gerhardt schreinerte sich einen stabilen Tisch.
S-Bahnhof Schönhauser Allee, das Kino Scala , Café Nord – beliebteste Tanzgaststätte des Ostens. Natürlich war alles dunkel; keine Musik im Inneren des Restaurants, keine langen Schlangen von jungen Leuten vor der Tür, kein Türsteher, der sich als lieber Gott aufspielte.
Noch ein paar Schritte, und er stand vor der Nr. 86, einem Haus mit großen Erkern. Hier hatten bis vor vier Monaten Tante Grit und Onkel Karl gewohnt. Es brannte Licht im ersten Stock, also war die Wohnung bereits wieder vermietet. Ob aber die neuen Mieter Tante Grits und Onkel Karls Möbel übernommen hatten und dazu das Gemälde mit den beiden Männern, die eine Frau vor eine Entscheidung stellten? Eine Szene aus dem Mittelalter, die ihn als Kind sehr berührt hatte: Was verlangten die beiden Männer mit den Federhüten auf dem Kopf von der Frau? War sie mit einem der beiden verheiratet und liebte sie den anderen?
Er hatte viele Erinnerungen an diese Wohnung. Er war noch keine fünf Jahre alt gewesen, da durfte er bei Tante Grit und Onkel Karl Schallplatten auflegen. Es war eine sehr große und teure Musiktruhe; ein Wunder, dass sie ihn an die herangelassen hatten. »Ham Se nich, ham Se nich, ham Se nich ’ne Braut für mich?«, schallte es aus dem Lautsprecher, oder: »Sie ist zu dick, sie ist zu dick, sie ist zu dick für mich.« Später die Sonntagsbesuche und die kleine Feier nach Mutters Tod; noch später die Donnerstagabende: Sekt und Astor , ein gutes Abendessen und fünf Mark.
Es war also doch »anders gekommen«. Wenigstens für Onkel Karl und Tante Grit. Weil er mal wieder
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