Krokodil im Nacken
zurückgeblieben?
Wieder blickte er zu den Fenstern hoch. Was wollte er hier? Sich eine Heimkehr vorgaukeln? Etwa bei Gisela klopfen, mit der er bei Fliegeralarm zusammen im Kinderwagen gelegen hatte und danach lange in dieselbe Klasse gegangen war? Oder bei Rudi, Hans und Lilli, Beate-Tomate und Lutz und wie die Kinder alle hießen, die noch hier wohnten, als er fortging? Wenn sie inzwischen nicht weggezogen waren, würden sie sich vielleicht dafür interessieren, was aus ihm geworden war.
Nein, er durfte sich nicht zum Idioten machen. Ein kurzes Stehenbleiben, eine S-Bahn-Fahrt oder zwei, drei Bier lang würde das Interesse an ihm vielleicht reichen; eine Störung am Heiligabend wäre nichts anderes als ein dummer Streich. Der Einzige, bei dem er hätte klingeln dürfen und bei dem und dessen Mutter er leichten Herzens geklingelt hätte, wenn sie nicht vor Jahren schon an die Ostseeküste gezogen wären, war Kalle Kemnitz; Kalle, der in der Dunckerstraße gewohnt hatte wie jetzt er in der Duncker wohnte, nur eben drei Häuser weiter; Kalle, der sicher ebenfalls ab und zu an ihn dachte.
Er ging auf die Straße zurück, spazierte die Prenzlauer Allee hoch, in die Dimitroffstraße rein, bis hin zur Schönhauser Allee und dort unter der Hochbahn entlang. Nicht weit von hier lag die Bernauer Straße, über die sie als Kinder die gestohlenen Ofenroste in den Westen geschmuggelt hatten; jene Straße, in der die Häuser noch zu OstBerlin, der Bürgersteig aber schon zu WestBerlin gehörte. Inzwischen war die Bernauer in ganz Deutschland berühmt. Das Westfernsehen hatte Fotos und Filmaufnahmen von Fluchtszenen gezeigt: Ein junger Soldat, der über den Stacheldraht sprang; Menschen, die sich aus dem dritten Stock ihres Hauses in ein Sprungtuch der West-Feuerwehr fallen ließen; eine alte Frau, die im ersten Stock aus dem Fenster hing und fast zerrissen wurde – aus der Wohnung heraus von zwei Männern, die sie an den Armen in den Ostteil der Stadt zurückzerren wollten, von der Straße her von Leuten aus dem Westen, die sich ins Parterrefenster gestellt hatten und sie an den Beinen festhielten.
Als diese Szenen gezeigt wurden, war er noch auf der Insel. Sie hatten sich den Bericht heimlich angesehen und danach lange nichts sagen können. Was sie da zu sehen bekommen hatten, war ja kein Hollywood-Film; das war Wirklichkeit. Und es war mitten in ihrer Stadt geschehen. Und wie waren diese Bilder denn zu verstehen? War es im Osten so schlimm, dass man sein Leben einsetzen musste, nur um rauszukommen? Ete hatte nicht damit gerechnet, dass der Schornstein, um den er sein Seil geschlungen hatte, morsch war, die Menschen in der Bernauer aber hatten gewusst, was sie riskierten. Einige von ihnen waren ja auch zu Tode gestürzt. Und was hatte die alte Frau – sie war schon siebenundsiebzig gewesen – denn davon, letztlich doch auf westlichem Gebiet gelandet zu sein? Die Aufregung hatte sie viel zu sehr mitgenommen; kurz nach ihrer Flucht war sie gestorben. Und wusste sie denn überhaupt noch, was sie tat, als sie sich aus dem Fenster hängte?
Inzwischen war der Stacheldraht fast überall einer dreieinhalb Meter hohen Betonmauer gewichen und in den Häusern auf der östlichen Seite der Bernauer Straße wohnte niemand mehr. Alle Wohnungen waren evakuiert, die Hauseingänge und Fenster zugemauert und die Dächer mit Stolperdrähten versehen. Der berühmte Riss mitten durch die Stadt. Ein Riss aber auch durch ihn, Manfred Lenz. Seit seiner Kindheit flohen die Leute; erst die Möckels, die Bohms, Uhlenbuschs und Johnny Kleppinger, später Giselas Bruder Hotte, Ete Kern, Hanne Gottlieb, Pius, Franz Natopil, Tante Grit und Onkel Karl. Aus der Königsheide hatte sich jeder Dritte, den er kannte, kaum volljährig geworden, in den Westen abgesetzt. Und das trotz – oder gerade wegen? – der so gründlichen sozialistischen Erziehung.
Und es versuchten ja noch immer einige wegzukommen. Zwar konnte niemand mehr aus irgendwelchen Fenstern in den Westen springen oder über Friedhofsmauern klettern, doch gab es andere Wege. Die einen gruben Tunnel von West nach Ost, um ihre Familienangehörigen in den Westen zu holen, andere rutschten vom Osten aus mit selbst gebauten Seilbahnen über die Mauer hinweg, wieder andere schwammen durch die Havel oder durchbrachen die Grenzanlagen mit LKWs. Wurde ein Flüchtling entdeckt und blieb er nicht stehen, schossen die Grenzsoldaten. Es hatte bereits Tote und Verletzte gegeben und trotzdem wurden Tag
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