Krokodil im Nacken
darüber diskutiert. Vermutungen wurden angestellt, Vorahnungen eingestanden, Empörung geäußert. Von einem aber waren alle überzeugt: In den Flutgraben wird er nicht gesprungen sein, der Klassenkämpfer Franz, denn nach Ete Kerns Flucht hatte er die Regenrinne abmontieren lassen.
Richard Diek sagte, für Leute dieses Kalibers gebe es andere Wege, in den Westen zu gelangen, bequemere, sicherere. Pius sprach, bis er sich wenige Wochen später auf der Flucht vor der Wehrpflicht selbst auf den Weg in den Westen machte, nur vom schäbigen Element Franz.
Heiligabend 1961. Im RIAS wurde seit dem frühen Morgen darüber geredet, dass die Deutschen noch nie zuvor in ihrer Geschichte so getrennt gewesen seien. Im Gedenken an ihre ostdeutschen Landsleute sollten die WestBerliner Kerzen in die Fenster stellen, ein Bischof sprang mit Gott über die Mauer, ein Politiker verlangte: »Macht das Tor auf!« Die West-Post verkündete stolz, nie zuvor in ihrer Geschichte so viele Pakete und Päckchen befördert zu haben wie in dieser leidvoll-schmerzlichen Vorweihnachtszeit; die allermeisten natürlich von West nach Ost – ein Beweis dafür, dass die ostdeutschen Landsleute nicht vergessen seien.
Auch Lenz hatte ein West-Päckchen bekommen. Von Tante Grit. Am 12. August war sie mit Onkel Karl zu Freunden nach Wilmersdorf gefahren – einfach nur zu Besuch, wie sie geschrieben hatte –, am Abend sei Onkel Karl dann unruhig geworden: »Lass uns lieber hier schlafen. Hab so’n komisches Gefühl im Bauch.« So hätten sie also bei ihren Freunden im Westen übernachtet und am nächsten Morgen aus dem Radio erfahren, dass Onkel Karls Gefühl nicht getrogen hatte: Die Wohnung an der Schönhauser Allee war verloren, die kleine Farbenfabrik und das Kreuzberger Ladengeschäft waren gerettet.
Er hatte das Päckchen bei Onkel Karls Eltern abgeholt, machte seine Donnerstagsabendbesuche nun immer bei Oma und Opa Buch, holte ihnen Holz und Kohlen aus dem Keller und ließ sich Geschichten aus längst vergangenen Zeiten erzählen. Er mochte die beiden geistig noch so regen Alten, die voneinander nicht mehr viel hielten und deshalb gern über den anderen lästerten.
Ansonsten gab es niemanden, den er besuchen konnte. Robert und Reni waren noch in Korea, Ete wohnte nun schon seit vier Monaten bei seiner älteren Schwester im Wedding und hatte ihn über die OstBerliner Schwester grüßen lassen. Und Hanne Gottlieb? Der war inzwischen ebenfalls abgehauen. Über eine Friedhofsmauer an der Chausseestraße war er geklettert, zusammen mit zwei anderen Existenzialisten. Einer der drei war erwischt worden, Hanne war davongekommen. Sehr zu Seelers Ärger; damit hatte nun auch er nicht mehr alle Küken im Nest.
Lenz hatte Oma und Opa Buch versprechen müssen, das Päckchen erst Heiligabend zu öffnen, und er hielt sich dran, wollte irgendwas zum Freuen haben. Jetzt war es fünf Uhr nachmittags, Bescherungszeit, jetzt durfte er nachsehen, was drin war.
Zigaretten, Schokolade, Brühwürfel, Kaffee, ein Stück Schinken, ein weißes Oberhemd. Er steckte sich eine der Zigaretten an und inhalierte tief. Schade, dass er keine Kaffeemühle hatte, sonst hätte er sich jetzt einen Kaffee kochen können. Neuerdings schmeckte der ihm ja. Zum Trost knabberte er ein paar Bohnen, dann schlang er sich, bevor er das Päckchen in die Küche trug, den Schal um den Hals, setzte sich in der Küche an den Tisch, schnitt Schinken ab, schnitt Brot ab, legte eine Scheibe Schinken auf das trockene Brot, biss ab, kaute und biss erneut ab. Er schmeckte gut, der Schinken, schmeckte nach mehr. Schon ein bisschen besser gelaunt, pickte er mit dem Schraubenzieher Wasser aus dem Eimer, zündete den zweiflammigen Gasherd an, wartete, bis das Wasser kochte, und warf einen Brühwürfel hinein. Wie das duftete! Er hatte den Maggi -Geschmack schon immer gemocht. Mit der Tasse in der Hand und zwei weiteren Schinkenbroten ging er in die Stube zurück, setzte sich dicht neben dem Ofen auf die Couch, kaute und trank in kleinen Schlückchen. Als er sich satt fühlte, rauchte er die zweite von Tante Grits und Onkel Karls Astor .
Und nun? Was sollte er mit dem angebrochenen Abend beginnen? Lesen? Da würde er sich kaum konzentrieren können. Und ins Bett legen und am Transistorradio drehen, bis er einschlief? Was war denn an so einem Abend schon für Musik im Radio! Kotzelend würde ihm werden vor lauter »Stille Nacht« und »Oh, du Fröhliche!«.
Er trat ans Fenster, nahm die Decke ab, die
Weitere Kostenlose Bücher