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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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traf. In einer Haustürnische standen sie, in enger Umarmung, die Frau stöhnte laut … Nein, der wurde keine Gewalt angetan, die hatte mit ihrem Verfolger nur gespielt. Schnell setzte er die Füße wieder rascher.
    Der Schuh-Express ! Nun war er doch wieder hier gelandet. Seit er aus dem Heim entlassen war, zog es ihn hierher. Nicht anders erging es ihm in seinen Träumen. War dann die Mutter noch am Leben, stand sie hinter der Theke und lächelte ihm zu, und nie brachte er es fertig, ihr Vorwürfe zu machen. War sie bereits tot, stand Onkel Willi an ihrem Platz und fürchtete sich vor dem groß gewordenen Manni, von dem er glaubte, er würde ihn zur Rede stellen oder gar schlagen wollen. Er aber hatte nicht vor, Onkel Willi irgendwas anzutun, blickte sich nur neugierig um. Doch es waren stets fremde Räume, die er zu sehen bekam, eingerichtet mit fremdem Mobiliar. Auch entdeckte er bei diesen Traumwanderungen kein einziges bekanntes Gesicht unter den Gästen, und die ihm ebenfalls unbekannte Frau, die mit Onkel Willi hinter der Theke stand, war ihm gleichgültig.
    Sogar von Wolfgang hatte er erst vor wenigen Tagen wieder geträumt. In diesem Traum war Robert bereits aus Korea zurück, kam zu ihm und sagte, Wolfgang lebe noch, sei gar nicht tot; es sei alles nur ein Irrtum gewesen. Und Robert wusste auch, wo der Bruder zu finden war: unter der U-Bahn-Hochführung an der Schönhauser Allee. Ja, und da stand er dann auch tatsächlich, der inzwischen fünfundzwanzigjährige Wolfgang, und erkannte ihn sofort wieder. Freudestrahlend drängelte er sich zwischen all den Menschen hindurch, die gerade die U-Bahn verließen, rief laut: »So siehst du jetzt aus!«, nahm ihn in die Arme und drückte ihn. Das war ein so heftiges, schönes Gefühl, dass er vor Erregung aufschreckte und lange brauchte, bis er sich damit abgefunden hatte, dass diese Szene ja nur geträumt war.
    Nein, von außen erinnerte nichts mehr an den Ersten Ehestandsschoppen ; ein Schuh-Express war keine Kneipe …
    Onkel Willi, so hatte Lenz in den Nachbarkneipen erfahren, war vor zwei, drei Jahren gestorben. Bis dahin aber sei es ihm gelungen, den Ersten Ehestandsschoppen völlig herunterzuwirtschaften. Woran er gestorben war? Achselzucken. Auf welchem Friedhof er lag? Keine Ahnung. Für den Meisel habe sich doch nie einer richtig interessiert.
    Auch Maxe Rosenzweigs Schneiderei gab es nicht mehr. Vor anderthalb Jahren war er gestorben. Heruntergelassene Rollläden, die morgens nicht mehr hochgingen, von Kindern mit Kreide bemalt, verrieten nichts von dem, was sich einmal dahinter abgespielt hatte.
    Friedrich Bessel sollte weggezogen sein. Wohin wusste niemand. Auch sein Schuhladen war dicht. Und Bel Ami, Otto Grün, Herrmann Holms und die göttliche Margot? Alles keine bekannten Größen mehr. Nur Else Golden, die kannte man noch. Sie sollte auf dem S-Bahnhof Treptower Park arbeiten. Als Zugabfertigerin. Die Zeiten für Ost-West-Schiebereien waren ja nun endgültig vorbei.
    Onkel Ziesche, Heinz der Stotterer, Arno von der Müllabfuhr, Onkel Murkel, der bucklige Kurt, Hemden-Rudi, die tragische Trude, Lola Lola, Püppi Heinemann, die Kippen-Marie, die Brikett-Anna, Emilchen der Schweiger – irgendwie gab es sie alle nicht mehr. Jedenfalls nicht hier. In fünf Jahren war eine ganze Welt versunken.
    Zögernden Schritts ging Lenz über die Straße. Die Haustür war offen, der Flur roch wie damals. Er schaltete das Licht ein. Einige Namensschilder auf dem stillen Portier waren neu, andere kannte er noch. Er betrat den Hof und hob den Kopf. Nur wenige Fenster waren erleuchtet; die Wohnzimmer lagen zur Straße hin und wer saß denn Heiligabend in der Küche?
    Die Hände an die Augen gelegt, versuchte er, durch das verrostete Gitter zu spähen, das mal zu ihrem Küchenfenster gehört hatte. Undenkbar, dass er als kleiner Junge durch diese eng stehenden Gitterstäbe auf den Hof hinausgeschlüpft war! Dann aber, obwohl in dem finsteren Raum hinter den gardinenlosen Fensterscheiben kaum etwas zu erkennen war, wehte ihn ein beklemmendes Gefühl an: Robert, Wolfgang und er! In dieser Küche, die er nun so vor sich sah, wie er sie in Erinnerung hatte, hatten sie Bälle aus Lumpen geflickt, Zuckerstullen gebrutzelt oder vor dem Spiegel gestanden, um neue Frisuren auszuprobieren. In dieser Küche hatte der kleine Manni der Mutter an so vielen Heiligabenden geholfen, den Braten in die Röhre zu schieben, und später den Zoodirektor gespielt. War denn nichts davon

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