Krokodil im Nacken
erzählte, wie seine Frau als Sechzehnjährige mit Vater und Stiefmutter von Frankfurt am Main nach OstBerlin gezogen war, damals noch in der Hoffnung, dass sie, falls es ihr dort nicht gefiel, jeden Tag zu ihren älteren Geschwistern in den Westen heimkehren konnte. Wie dann über Nacht die Mauer gebaut worden war und Jahre später ihr Bruder starb und sie nicht zur Beerdigung fahren durfte. Wie aber ihre Eltern, inzwischen Rentner, fahren durften und nicht wieder in die DDR zurückkehrten und sie von da an als einziges Familienmitglied im Ostteil des Landes lebte. »Na ja, und da wollte ihre Schwester eben helfen.«
Neugieriges Stirnrunzeln. »Wieso ist denn Ihr Schwiegervater aus der Bundesrepublik in die DDR übergesiedelt?«
Eine Frage, die Lenz erwartet hatte. »Nicht ganz freiwillig«, antwortete er nur. »Eine Korruptionsgeschichte.«
»Und als er zurückkehrte, war die Sache verjährt?«
»Ja.«
Stoff zum Nachdenken. Trommelnde Finger auf der Schreibtischplatte. »Ihre Frau kann ich verstehen«, kam es dann. »Auch bei uns heißt es, Blut ist dicker als Wasser. Aber was ist mit Ihnen, Manne? Haben Sie keine Familie?«
»Nein.«
»Sie haben niemanden mehr?«
»Nein.« Wozu sollte er diesem menschenfreundlichen Vernehmer von Robert erzählen; kann ein Bruder für den anderen leben?
»Also wollten Sie nur Ihrer Frau zuliebe die DDR verlassen?«
»Nein. Da gab es mehrere Gründe. Letztendlich aber hatten wir von unserem Vorhaben Abstand genommen.« Er musste vorsichtig sein, durfte nicht zu viel sagen; was er hier antwortete, würden sie ihm zu Hause vorhalten.
Der Kater sah ihn lange an, dann brachte er mal wieder sein Schnurrbärtchen durcheinander. »Sie haben ein ehrliches Gesicht, Manne. Wieso lässt einer wie Sie sich auf falsche Pässe ein?«
»Es waren echte Pässe, keine Fälschungen.« Lenz musste grinsen.
Auch der Schnurrbart zog sich in die Breite. »Was an Ihrem Fall echt und wahr ist und was nicht, darüber werden andere entscheiden.«
Wie lange er denn noch hier bleiben müsse, wollte Lenz da nur noch wissen.
»Eine Woche, zwei oder drei – wer weiß? Auf jeden Fall werden wir uns in dieser Zeit noch ein paar Mal sehen.«
Lenz empfand diese Worte nicht als Drohung, sondern als Versprechen.
3. Stimmen
S echs Uhr Wecken, zweiundzwanzig Uhr Nachtruhe. Beides wurde durch ein Klingelzeichen angekündigt. Dreimal am Tag ging die Klappe: »Schüssel!« Dann reichte Lenz die blaue Plastikschüssel raus, setzte sich an seinen Tisch und aß, was man ihm in die Schüssel getan hatte. Das waren morgens nach wie vor Klappstullen mit Marmelade oder Pflaumenmus; Brote, die so trocken waren, dass sie ohne den unangenehm duftenden Muckefuck gar nicht runterzubekommen waren. Hatte er sie endlich verdrückt, kippte er den Rest Morgenlorke weg und begann mit seiner Gymnastik: Liegestütze und Kniebeugen und davon jeden Tag mehr.
Jeden zweiten Tag bekam er vor oder nach dem Frühstück Trockenrasierer und Handspiegel in die Zelle gereicht. Nie zuvor hatte er sich so gründlich rasiert; jede Minute, die er mit einer Beschäftigung verbrachte, verkürzte den Tag.
Nach dem Rasieren oder gleich nach der Gymnastik startete er den ersten seiner Zellenmarathonläufe. Gut zwei Stunden lang acht kurze Schritte hin, acht kurze Schritte her. Nach dem Mittagessen – Eintopf oder Kartoffeln mit Soße und Fleisch und wenig Gemüse – neue Kniebeugen, neue Liegestütze. Danach Start zum nächsten Marathonlauf. Oft lief er in seiner Zelle auf und ab, bis er das Gefühl hatte, sich selbst entgegenzukommen. Zwischendurch holten sie ihn zur Freistunde. Dann rannte er zwanzig bis dreißig Minuten in einem mit Maschendraht nach oben hin abgesicherten Zementkäfig im Kreis, ebenfalls ganz mit sich allein, aber wenigstens an der frischen Luft.
Einmal in der Woche wurde die Unterwäsche gewechselt und er durfte unter die Dusche. Karg bemessene Wasserspiele für einen einzelnen Herrn und dennoch jedes Mal ein Grund zur Freude.
Abends gab es Margarinebrote und noch mal eine Portion Muckefuck. Nur mittwochs, da startete das Fest der Feste, da wurden am Abend auf dem doppelstöckigen Wagen mit den Schmatzrädern kein Ersatzkaffee, sondern Pfefferminztee und zu den Broten ein Scheibchen graue Teewurst oder ein Stückchen magerer Käse herangekarrt. Manchmal, sehr selten, gab es dazu auch noch einen Plastikbecher mit Kraut oder Möhrengeschnipsel. Damit die Gefangenen keinen Skorbut bekamen. Lenz freute sich jedes Mal
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