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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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kannte Lenz bereits, dennoch fiel er sofort über den umfangreichen Roman her, voller Vorfreude auf die vor ihm liegenden Stunden und Tage, die ihm damit so gut wie herumgebracht schienen.
    An diesem Tag jedoch schaffte es nicht einmal der große Russe, ihn aus der Wirklichkeit fortzureißen. Während der letzten Vernehmung hatte der Leutnant ihn mit einer Neuigkeit überrascht. »Sie wollten doch immer einen Rechtsanwalt«, sagte er gleich nach der Begrüßung. »Jetzt haben Sie einen. Dr. Wolfgang Vogel. Den Namen schon mal gehört?«
    Er hatte diesen Namen schon einmal gehört, vor Jahren, als ein Aufsehen erregender Prozess gegen einen ehemaligen KZ-Arzt stattfand. Alle Welt hatte geglaubt, dieser SS-Fischer hätte sich in den Westen abgesetzt, während der still und zurückgezogen in der DDR praktizierte; wohl weil er hoffte, seine Chance, nicht entdeckt zu werden, sei hier größer. Dr. Vogel war zu seinem Verteidiger bestellt worden, obwohl das Todesurteil sicher längst feststand. Damals war sein Name durch alle Medien gegangen. Und nun sollte ausgerechnet dieser prominente Rechtsanwalt das politisch so unbedeutende Ehepaar Lenz verteidigen?
    »In anderen Zusammenhängen ist Ihnen der Name Vogel nicht untergekommen?«
    »Nein! Deshalb hätt ich gern gewusst, wer ihn beauftragt hat, für uns tätig zu werden.«
    »Beauftragen müssen Sie ihn.«
    »Und wer hat ihn ausgewählt?«
    »Ihre Schwägerin.«
    Franziska? Er war skeptisch geblieben, der Leutnant aber hatte ein Blatt Papier vor ihn hingeschoben: eine Prozessvollmacht, ausgestellt auf den Namen Dr. Wolfgang Vogel. »Seien Sie beruhigt, dieser Vogel ist kein schlechter Vogel. Einen besseren Anwalt hätten Sie nicht finden können. Ihre Frau hat ihn bereits akzeptiert.«
    Da hatte er dann kurzerhand unterschrieben. Wenn Franziska diesen Anwalt ausgewählt hatte, würde sie zuvor Auskünfte über ihn eingeholt haben; Hannah und er hätten ins Telefonbuch schauen müssen, um einen Anwalt ausfindig zu machen. Ob der dann aber eine Koryphäe gewesen wäre?
    Dennoch: Was für eine seltsame Form der Kontaktaufnahme zwischen Anwalt und Mandant! Kein Kennenlernen, kein einziges Gespräch unter vier Augen, kein Wort über den eventuellen Prozessverlauf, nur ein Formular, das unterschrieben werden musste … Damit musste er erst einmal fertig werden; da halfen kein Dostojewski und kein Gerhart Hauptmann; das musste er still für sich und während vieler nachdenklicher Marathonläufe verdauen.
    Am Abend bekam Lenz dann auch wieder die Zeitung. Die zweite Überraschung dieses Tages, die aber nicht die letzte bleiben sollte. Er hatte das Blatt noch nicht zu Ende gelesen, da stand plötzlich der Marsmann in der Tür. »Packen Se Ihre Sachen, Sie werden verlegt.«
    Ein Schock! Drei Monate hatte er in dieser Zelle zugebracht, Pritsche, Tisch und Hocker, Klo- und Waschbecken, sogar die kalten Mauern, alles war irgendwie »sein« geworden, nun musste er plötzlich hier raus. »Wo geht’s denn hin?«, war das Einzige, was er über die Lippen brachte.
    Der Marsmann wollte erst nicht antworten, gab sich dann aber gnädig: »Nur eine Etage höher.« Und als er sah, dass der aufgeregte Lenz zu viel Zeit brauchte, um Bettwäsche und Decken, Bücher, Waschzeug und Geschirr so zusammenzupacken, dass er alles tragen konnte, half er ihm, indem er all sein Zeug in einer Decke zusammenbündelte und sie ihm in die Arme drückte.
    Es ging ins Treppenhaus und ein Stockwerk höher in den Zellengang hinein. Vor der 212 blieb der Marsmann stehen, schloss auf, ließ Lenz eintreten, sagte ihm, dass er von nun an die Zwohundertzwölf-Zwo sei und sich auch so zu melden habe, und verschloss die Zelle ohne ein weiteres Wort.
    Eine Viererzelle! Sie hatten ihn in eine Viererzelle verlegt! An der Wand gegenüber der Tür befanden sich zwei Glasziegelfenster, davor standen in Abständen von etwa sechzig Zentimetern vier Pritschen nebeneinander. Ein Gefangener jedoch befand sich nicht in dieser Zelle, und nur auf einer der vier Pritschen lag Bettzeug … Lenz zögerte einen Moment, dann legte er all sein Zeug auf die Pritsche ganz links. Sein Mithäftling, der gerade zur Vernehmung sein musste, für die Freistunde war es ja schon viel zu spät, hatte die ganz rechts belegt. Zwar hätte er, Lenz, als Zwohundertzwölf-Zwo gemäß Verwahrraumordnung die Pritsche direkt daneben beziehen müssen, zwei Pritschen Abstand aber waren ihm lieber. Wusste er denn, was das für einer war, mit dem er von nun an Tag

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