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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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den richtigen Riecher gehabt hatte, der Karl Friedrich Buch, weil er, wie Tante Grit schrieb, schon immer ein so aufmerksamer Zeitungsleser gewesen war. In den Westzeitungen sei ja schon seit längerem orakelt worden, dass bald etwas passieren werde, um den endlosen Flüchtlingsstrom zu stoppen; das hatte Onkel Karl hellhörig gemacht. Trotzdem: Einen Tag vor dem Mauerbau in den Westen fahren und über Nacht dort bleiben, weil man ein komisches Gefühl im Bauch hatte – da gehörte was dazu, da musste man schon sehr gute Fühler am Kopf haben, damit der Bauch so reagierte. Und dann, im Westen, wer saß da auf dem Wohnungsamt hinter dem Schreibtisch, als der Republikflüchtling Buch um eine Wohnung vorstellig wurde? Der Konrad Kraus, ein lieber alter Schulfreund! Oma Buch hatte nur den Kopf geschüttelt, als sie davon erzählte: Ihr Karlchen, immer wieder fiel der Junge direktemang in den Pudding!
    U-Bahnhof Vinetastraße. In dem schmalen Haus gleich gegenüber lag die Wohnung von Hanne Gottliebs Mutter. Auch bei ihr brannte Licht. Feierte sie allein Weihnachten? Wenn ja, wie war ihr jetzt zumute, der Mann in Amerika, der Sohn auf dem Weg zu ihm, sie hier allein, ihrer Partei die Treue haltend? Lenz war mal bei ihr gewesen, um nach Hanne zu fragen, hatte der zuvor so hübschen Frau gegenübergesessen und es nicht glauben wollen: Sie war dick geworden in diesen wenigen Wochen seit Hannes Flucht. Bleich und schwammig im Gesicht, hatte sie eine Zigarette nach der anderen geraucht und nur unlustig Auskunft gegeben: Ja, Hanne gehe es gut, sein Vater wolle ihm Geld schicken, gleich im neuen Jahr würde er zu ihm fliegen. Lenz hatte bald wieder gehen wollen, aber da hatte Frau Gottlieb sich plötzlich zusammengerissen, ihm Brote geschmiert und ein Bier hingestellt; sie hatte ihn bewirtet, als wäre er ihr Hanne, und ihn gefragt, wie er denn nun mit allem fertig werde. Das Leben so ganz allein sei doch sicher nicht einfach.
    Er hatte ihr etwas vorgespielt. Prächtig ginge es ihm. Endlich sei er raus aus dem Heim. Arbeit, Verdienst – alles bestens! Als er sich dann endlich verabschieden durfte, drückte sie ihm Geld und Zigaretten in die Hand und er hatte sich wieder als Hannes Stellvertreter gefühlt. Sie bat ihn, bald mal wiederzukommen, damit sie ihm erzählen konnte, wie es Hanne in Amerika gefiel, und er hatte ihr versprochen, das auch wirklich zu tun, aber schon gewusst, dass er nicht wieder hingehen würde. Er wollte kein Hanne-Ersatz sein. Wenn er jetzt bei ihr klingelte, vielleicht wäre sie froh über seinen Besuch?
    Aber nein, er klingelte nicht, lief nur die Berliner bis zur Bornholmer Straße zurück und bog dort ein, um in Richtung Bösebrücke weiterzuwandern – direkt auf die Grenze zu.
    Wollte er mal sehen, wie weit er kam? Wollte er ein bisschen wider den Stachel löcken? Suchte er den Kitzel der Gefahr? An jenem Abend fragte er sich das nicht, lief nur immer weiter, bis Mannschaftswagen der Volkspolizei die Straße absperrten und er stehen bleiben musste. Sicher war er schon längere Zeit durch zwei, drei Ferngläser beobachtet worden: Ein durchfrorener junger Mann, etwa einsachtzig groß, im dunklen Mantel, Kragen hochgeschlagen, Hände in den Taschen, der sich in unklarer Absicht der Grenze näherte.
    Was aber wäre passiert, wäre er plötzlich losgerannt, auf die Grenze zu? Hätten die Volkspolizisten, Volksarmisten oder Kampfgruppler, die an dieser Stelle die Grenze bewachten, dann auf ihn geschossen? Aber natürlich – Anruf, Warnschuss, Zielschuss –, sie hätten ihre Pflicht getan. Und hätten sie das Zielobjekt getroffen, wären sie dafür belobigt worden, mit einem Orden, einer Geldprämie oder mit Sonderurlaub … Doch er wollte ja gar nicht losrennen, stand nur da, sah vier, fünf Sekunden lang zu den Mannschaftswagen hin, dann machte er kehrt und wanderte langsam in die Dunckerstraße zurück.

Zweiter Teil Das Glück
1. Neckermänner
    D ie Klappe ging, der Graue spähte in die Zelle. »Woll’n Se nichts zu lesen?«
    Er sollte wieder Bücher bekommen? Die Strafmaßnahme war beendet? Nur zögernd trat Lenz an die Tür. Der Graue reichte ihm zwei schon sehr abgegriffene Exemplare hinein, einen Wälzer und ein schmaleres Werk, blickte ihn noch mal missbilligend an, als habe die Hundertzwo-Zwo eine solch nachsichtige Behandlung eigentlich gar nicht verdient, und schloss die Klappe. Dostojewski: Schuld und Sühne , Gerhart Hauptmann: Stücke . Welch unverhofftes Geschenk!
    Den Dostojewski

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