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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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Rechtsanwalt konnte er sich abschminken; er war nicht in Amerika. Aber durfte er denn aussagen, solange er nicht wusste, ob und was Hannah inzwischen gestanden hatte? Er musste doch wenigstens wissen, ob sie bei ihrer Absprache geblieben war …
    Ein doppelter Witz, dieses »Sie sind hier nicht in Amerika«. Wie oft hatte der kleine Manni Lenz sich, wenn er allein sein wollte, in Mutters Abstellkammer zurückgezogen, die er sein »Amerika« nannte, ohne zu wissen, wo dieser weit entfernte Kontinent denn überhaupt lag und wie er aussah. In seinem Amerika hatte er sich frei gefühlt von allem, was ihn bedrängte, hatte er träumen und sich als sein eigener Herr fühlen dürfen. Nun hatte dieses Stasi-Männchen mit dem Klassensprechergesicht gesagt, er sei hier nicht in Amerika; wenn der wüsste, wie Recht er damit hatte!
    Es widerstrebte Lenz, vor diesem Staatsdiener klein beigeben zu müssen, doch machte er sich nichts vor: Auf die Dauer würde er die Aussageverweigerung nicht durchhalten. Er stand einem Staatsapparat gegenüber, der sich nicht scheute, ein halbes Volk einzusperren, nur um es einem gesellschaftlichen Experiment zu unterziehen – weshalb sollte dieser Apparat mit einem Manfred Lenz zimperlich umgehen? Redete er nicht, würden sie ihn in seinem eigenen Saft schmoren lassen, bis er darin ersoffen war. Wenn er es also irgendwann doch tun musste, weshalb nicht gleich? Wozu sich erst foltern lassen?
    An manchen Tagen bedauerte Lenz es, kein wirklich aktiver Feind dieses Staates zu sein. Wer einer Idee nachlebte, hatte es im Gefängnis leichter, fühlte er sich durch seine Märtyrerrolle doch sicher oft noch gestärkt. Er, Lenz, konnte sich auf nichts als seine Ablehnung des Bestehenden berufen, ihm half kein »Kriegsziel«, keine Philosophie und kein Gott, er musste selbst mit allem fertig werden.
    Wollte er sich Luft machen, entwarf er Verteidigungsreden. Ein rhetorisches Meisterwerk löste das andere ab. Sprach er dabei laut vor sich hin, dauerte es nie lange und die Klappe ging und ihm wurde befohlen, still zu sein. Ob er denn die Verwahrraumordnung noch immer nicht kapiert habe? Sprach er danach leise weiter, beobachteten sie ihn durch den Spion. Dann juckte es ihn, dem, der da zu ihm hereinlinste, einen Vogel zu zeigen. Sie sollten nicht um seinen Verstand fürchten, sondern um ihren.
    Einmal, von Wut und Übermut erfasst, lehnte er sich gegen dieses ständige Im-Visier-Sein auf und verschwand einfach mal von dem Präsentierteller, auf dem er sich sogar beim Pinkeln und seinen vergeblichen Scheißversuchen befand, indem er sich links von der Tür an die Wand presste, der einzige tote Winkel in dieser Zelle. Wie da sofort die Riegel krachten und der Schlüssel ins Schloss fuhr und der Falke, ein noch sehr junger, schnabelnasiger Unteroffizier mit eng zusammenstehenden Späheraugen, ihm mit vor Empörung geschwollenem Hals Arrest, Essensentzug und andere unangenehme Zusatzstrafen androhte. »Sie sind hier nicht im Kindergarten. Hier wird nicht Verstecken gespielt.«
    Er aber freute sich noch lange über diesen »Scherz«. Endlich war mal wieder was passiert!
    Es war diese ewige Ruhe und Einsamkeit, die die Zeit so unerträglich langsam verrinnen ließ. Dieses vollkommene Nichts. Kein Baum, kein Strauch, kein Stern, kein Himmel. Immer nur die beigefarbenen Wände und dazu die Schritte der Wachposten, die von Zelle zu Zelle schlenderten; immer nur der Wagen mit den schmatzenden Gummirädern, der zu allen Essenszeiten und auch dazwischen hin und wieder durch den Flur geschoben wurde.
    Oft stellte Lenz sich an die offene Lüftungsklappe und versuchte, irgendwelche Geräusche von draußen mitzubekommen. Doch nichts, kein Getschilpe von Vögeln, kein Taubengurren, keine Verkehrsgeräusche. Nur an den Wochenenden das Glockenläuten von einer nicht sehr weit entfernten Kirche her. Als er es das erste Mal hörte, hatte er sich eine Beerdigung, Hochzeit oder Kindtaufe vorgestellt und aus einem, ihm selbst nicht ganz begreiflichen Grund waren ihm die Tränen gekommen. Das passierte ihm nun nicht mehr, hörte er jedoch den ersten Glockenschlag, stellte sich noch immer Beklommenheit ein. Und verstummten die Glocken wieder, empfand er seine Einsamkeit noch stärker.
    Eines sonnigen Vormittags verirrte sich eine Wespe durch die Lüftungsklappe in seine Zelle. Er freute sich über diesen Besuch, ihm war, als wäre das Leben selbst zu ihm zurückgekehrt. Als sie auf dem warmen Sonnenflecken an der Wand ausruhte,

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