Krokodil im Nacken
nichts gebracht. Sein Argument, dass Hannah und er die Tat, die ihnen zur Last gelegt wurde, ja noch gar nicht begangen haben konnten, zweihundert Kilometer vom Tatort entfernt, hatte der grauhaarige Endfünfziger mit den dicken Tränensäcken unter den Augen locker weggewischt: »Auch Vorbereitungen zum illegalen Grenzübertritt sind strafbar.« Also: keine Hafthinderungsgründe, da eine zu erwartende Strafe erkennbar sei.
Ähnlich der noch recht jugendlich wirkende Haftarzt in der Stasi-Uniform unter dem weißen Kittel. Er befragte Lenz nach Vorerkrankungen, ließ sich die Zunge zeigen, horchte ihn ab, kuckte ihm unter die Vorhaut und klopfte ihm mit dem Reflexhämmerchen aufs Knie. Danach durfte der U-Häftling Lenz unterschreiben, dass er gesund war; eine Art Blankoscheck für alles Weitere.
Nein, kein Beistand von irgendeiner Seite her; du bist und bleibst hier drin und alle finden das gut so. Also nimm es hin und vertreib dir die Zeit, indem du kleine Filme in deinem Kopf ablaufen lässt: Szenen aus deiner Kindheit, aus Kinofilmen und Theaterstücken, die du mal gesehen, aus Romanen, die du gelesen hast. Oder denk dir selbst was aus. Ein Talent, das Lenz schon als Kind ausgezeichnet hatte. Als Siebenjähriger war er mal von einem PKW angefahren worden, als Neun- oder Zehnjähriger gegen einen Briefkasten gerannt, als Zwölfjähriger mit dem Fahrrad gegen einen parkenden Lkw gerast; alles nur, weil er mal wieder gesponnen hatte. Wie hatten Robert und Wolfgang, seine beiden großen Brüder, oft über ihn gespottet! Jetzt war er dankbar für diese Fluchtmöglichkeit; einen anderen Weg heraus aus diesen Mauern gab es ja nicht.
Doch natürlich schoben sich immer wieder Hannahs, Silkes und Michas Gesichter in diese Filme; Einblendungen, wie von einer höheren Regie veranlasst. Dann war es das Beste, sich auf den Boden zu werfen, um mit weiteren dreißig, vierzig, fünfzig Liegestützen jede Anwandlung von Selbstmitleid in sich zu ersticken. Nur hielt die Wirkung nie lange vor, ganz egal, welche Rekorde er aufstellte.
Dass er nicht wusste, wo Hannah und die Kinder sich befanden, war die schlimmste Marter. Hannah, davon war Lenz jeden Tag mehr überzeugt, war inzwischen sicher auch längst verhaftet; er traute der Stasi die Großzügigkeit, sie allein der Kinder wegen auf freiem Fuß zu lassen, nicht zu. Wenn Hannah aber auch verhaftet war, wo waren dann Silke und Micha? – Da gab es nur zwei Möglichkeiten: entweder bei Robert und Reni oder in einem Kinderheim. Aber der Bruder und seine Frau waren berufstätig, sie konnten die Kinder nicht nehmen …
Oft verlangte es Lenz in solchen Momenten mit aller Macht nach einer Zigarette. Es war mehr als nur lächerlich, er wusste, dass er keine finden würde; dennoch blickte er sich um, als müsste irgendwo eine bisher nur übersehene angebrochene Packung liegen.
Eine Kunst, in der Einzelhaft nicht durchzudrehen!
Erwachte Lenz morgens und stellte er fest, dass er doch für längere Zeit eingeschlafen und von keinem Alptraum gequält worden war, erfüllte ihn Genugtuung. Schlafen bedeutete, der Stasi Zeit abgetrotzt zu haben. In manchen Nächten aber bekam er kein Auge zu. Dann lag er bis zum frühen Morgen wach und sah, wie Silke und Micha in ihrem Zimmer miteinander spielten, wie er Micha in den Kindergarten und Silly zur Schule brachte, wie Hannah und er mit ihnen Ausflüge machten und Silke und Micha im Freibad Grünau auf seinem Rücken mit ins Tiefe hinausschwammen. Sie konnten noch nicht schwimmen, hatten Angst, aber immer wieder ließen sie sich von ihm auf den breiten Fluss hinaustragen, so viel Vertrauen hatten sie zu ihm … Hatten Hannah und er dieses Urvertrauen der Kinder zu ihren Eltern verraten? Hatten sie Silke und Micha gegenüber egoistisch gehandelt, leichtfertig oder ganz einfach nur dumm?
Welche Erlösung, wenn nach solchen Nächten das erste Tageslicht durch die Glasziegelsteine drang!
Schlief Lenz ein und träumte, so gerieten Hannah, Silke und Micha in diesen Träumen immer wieder in Gefahr, und er konnte ihnen nicht helfen, musste hilflos mit ansehen, wie sie durch einen kahlen, steinigen Irrgarten liefen und nicht herausfanden oder in einem grauen, endlosen Meer, ihn rufend und die Arme nach ihm ausstreckend, immer weiter von ihm forttrieben.
Schaffte er es, die Gesichter von Hannah, Silke und Micha für kurze Zeit zu verdrängen, quälte ihn die Frage, wie er sich nun verhalten sollte. Aussagen oder nicht? Die Hoffnung auf einen
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