Krokodil im Nacken
der Maschine, die ihm den Arm genommen hatte; irgendwie gehörten die beiden zusammen, brauchte das stählerne Raubtier seinen Herrn, weil der es fütterte, und brauchte der junge Mann das Tier, weil es ihm Arbeit gab.
Der junge Theo war ein Faktotum, er gehörte zum Rohstofflager und gehörte doch nicht recht dazu. Denn eigentlich wurde hier be- und entladen. Blei-, Kupfer- und Aluminiumbarren, Kupferdraht, Papierballen, Kalk, Jute, Bandeisen und Kohlengrus, alles was zur Kabelfertigung benötigt wurde, hier wurde es angeliefert, gelagert und später in die entsprechenden Werkhallen und Fabriken weitertransportiert. Eine Arbeit für kräftige Männer. Meister Matthäi, ein dicklicher, groß gewachsener, betulicher Sechziger mit listigen Schweinsäuglein, stellte Lenz der Brigade dann auch mit den entsprechenden Worten vor: »Kuckt ihn euch an, da kriegt ihr ein kräftiges Kerlchen. Der muss nur ’n bisschen besser essen; Knochen hat er wie ’n Mulatte.«
Die Männer von der Brigade Rattler bekuckten sich den in seinen neuen Arbeitsklamotten an eine Schaufensterpuppe erinnernden jungen Spund Lenz – und er studierte sie. Eine verwegen anmutende Truppe: Arbeitsanzüge, aus denen längst das letzte bisschen Blau herausgewaschen war, in den Gürteln speckig glänzende Arbeitshandschuhe, jeder einen abenteuerlich geformten Hut auf dem Kopf. Bis auf einen einzigen Graukopf alles Männer zwischen fünfundzwanzig und vierzig. Diejenigen, die dazu neigten, sich schnell anzufreunden, grinsten Lenz freundlich zu, die Skeptiker blickten eher prüfend – was war ihnen denn da für ein Küken zugeteilt worden; würden sie für den etwa noch mitarbeiten müssen? –, der Rest blieb gleichgültig: Was dieser Neuling für einer war, würden sie bald mitbekommen. Vielleicht blieb er ja nur drei Tage, wie so viele andere, die nicht gewusst hatten, was sie erwartete; wozu sich Gedanken machen?
Der Chef der Truppe, Schichtleiter und Brigadier Arno Rattler, ein knochiger Fünfziger mit Hornbrille und einem Gesicht, das an van Goghs Kartoffelesser erinnerte, kam hinzu und sagte kein einziges Wort, blickte nur hin und wieder auf seine Armbanduhr und rauchte seinen Stumpen. Vor Punkt vierzehn Uhr würde niemand einen Handgriff tun. Rattlers Rücken, krumm wie der einer Kräuterhexe, sah aus, als hätte er sein Lebtag lang nichts anderes getan, als Kupfer-, Blei- und Aluminiumbarren zu schleppen; seine Hände waren dunkel und rissig, die Unterarme voller stark hervortretender Adern. Lachen oder lächeln sahen ihn seine Männer nie, nur hin und wieder grinsen. Dann erinnerte sein erdiges Gesicht mit den schmalen Augen an einen übermütigen Chinesen. Rattlers Anfeuerungsfloskel, wenn es ans Arbeiten ging: »Dawai! Dawai! Die Arbeit erledigt sich nicht von allein!«; eine Reminiszenz an seine achtjährige russische Kriegsgefangenschaft.
Als es so weit war, dauerte es nur dreißig Minuten und Lenz wusste, dass die Arbeit im Rohstofflager tatsächlich Mulattenknochen verlangte, denn gleich am ersten Tag wurde er ins Blei geschickt.
Vierzig Zentimeter lang, zehn Zentimeter stark lagen die Klamotten in vier Reihen nebeneinander und zu drei, vier Stück übereinander. Mehr hätten die Waggons nicht ausgehalten, so schwer war das Zeug. Und leider lieferten die polnischen Freunde ihr Blei fast ausnahmslos in geschlossenen Waggons. So musste jeder einzelne Barren zur Türöffnung geschleppt und dort, auf der der Spree zugewandten Waggonseite, bis in Brusthöhe aufgestapelt werden; von Lage zu Lage abwechselnd vier Stück quer gelegt, vier gerade. Der Kran ratterte auf seiner Laufschiene von Waggon zu Waggon, war ein Stapel fertig, legten sie unter die Nasen der untersten Barrenlage Drahtseile, hängten die Schlaufen in den Windehaken des Krans, zogen die Seile fest und hoben den Daumen. Die Seile strafften sich, bis der Stapel zwei, drei Zentimeter über dem Waggonboden schwebte und auf den Kai hinausschaukelte, um dort, Stapel an Stapel, abgesetzt zu werden. War ein Stapel schlecht gebaut, fiel er beim Hinausschaukeln in sich zusammen und musste auf dem Kai von neuem aufgestapelt werden.
Immer zwei Mann sprangen in einen Waggon – und los ging die Barrenschlepperei. War ein Waggon leer, gab’s eine Zigarettenpause, und rein ging’s in den nächsten. Weil Blei giftig war, bekamen sie pro Mann jeden Tag einen Viertelliter Milch. Das sollte sie retten. Am Ende so eines Tages hingen den Männern die Arme wie ungeschmierte Lastkräne
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