Krokodil im Nacken
war er in der Kampfgruppe und in der Gewerkschaft aktiv, trat in Betriebsversammlungen auf und erzählte jedem, der es hören wollte, dass er Mitglied der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft sei. Sein Ziel war es, eines Tages Rattler zu beerben und irgendwann Meister zu werden.
Stawitzke war Lenz nicht sonderlich sympathisch und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Mit Max »Kuppe« Kupinski hingegen unterhielt Lenz sich gern. Der kleine, dicke, blondlockige und ungemein kräftige Mann, dem niemand abgenommen hätte, dass er seinem erlernten Beruf nach Damenschneider war, hatte bis vor vier Jahren in seiner Freizeit in der Kleinen Melodie in der Friedrichstraße als Rausschmeißer gearbeitet. Im selbst geschneiderten beigefarbenen Anzug mit roter Fliege unterm Kinn achtete er darauf, dass niemand ohne Krawatte das beliebte Tanzlokal betrat, bis ihm dort eines frühen Morgens das »Pech seines Lebens« begegnete: Er hatte einen betrunkenen Randalierer aus dem Lokal zu befördern; der Mann fiel mit dem Hinterkopf gegen den Rinnstein und war sofort tot. Eindeutig schwere Körperverletzung mit Todesfolge. Fünf Jahre lautete das Urteil, bereits nach dreieinhalb Jahren aber war Kuppe »wegen außerordentlich guter Führung« wieder draußen. In Rattlers Schicht durfte er sich bewähren, nach Feierabend schneiderte er wieder.
Einer, der das Saufen zur Ideologie erhoben hatte, war Hotte Lindow, ein sechsundzwanzigjähriger Junggeselle, der noch bei seiner Mutter in der Köpenicker Altstadt lebte. »Besser löschen als anzünden«, sagte er immer und lachte über diesen Spruch, als würde er selbst nicht so recht wissen, was er damit meinte. Nicht zu übersehen aber war, dass der Alkohol in seinem ewig rötlichen Gesicht bereits Spuren hinterlassen hatte. »Der säuft sich noch das letzte bisschen Grips weg«, lästerte Stawitzke.
Hänschen Thorn, ein munter blickender, zweiundzwanzigjähriger Lockenkopf, der stets eine Feder am Hut stecken hatte, war ein bekehrter Säufer. Lange war er mit Lindow durch die Schöneweider und Köpenicker Kneipen gezogen; seit seine Mutter sich einen Fernseher zugelegt hatte, trank er vor der Röhre sein Bier. Hänschens größtes Problem: Er wollte heiraten. Immer nur mit der Mutter vor der Glotze hocken machte ihn nicht »endgültig glücklich«. Irgendwie aber wollte kein Mädchen sich mit ihm einlassen, woran laut Hänschen nur die »schmierigen Kanaken« schuld waren, die aus WestBerlin rüberkamen und sich »für ’ne Strumpfhose und ’ne Tüte Brausepulver« ein deutsches Mädel angelten. Er hätte nichts gegen die Türkenfürze, Spaghetti-Italiener und Wüstenscheichs, die sich als Gastarbeiter im Westen ’ne goldene Nase verdienten, beteuerte er immer wieder, aber sie sollten, verdammt noch mal, die Pfoten von »unseren Mädchen« lassen. Wie sollte er denn jemals die Richtige kennen lernen, wenn so viele Hühner sich nicht genierten, sich von fremdländischen Hähnen besteigen zu lassen?
Bernd Bellmann, genannt Bella, ein Stotterer, hatte genau die gegenteiligen Sorgen: Er war ein von den Frauen Verfolgter. Der hübsche, schwarzlockige Bursche mit den frechen, dunklen Augen hatte jung geheiratet, konnte aber nicht widerstehen, wenn eine ihn anlächelte. So musste er Monat für Monat an den Sonntagen freiwillige Arbeitsschichten einlegen, um die Alimente für drei Kinder von drei verschiedenen Frauen – nicht mitgerechnet die beiden ehelichen Töchter – aufbringen zu können. Klagte er über sein schweres Los, wurde gelästert, na klar sei er an dem Kindersegen völlig unschuldig, es dauere einfach zu lange, bis er das »N…n…nein!« heraushatte.
Es gab noch mehr solcher »Originale« in Rattlers Truppe – sie waren etwa zwanzig Mann –, und ganz sicher war auch er, Manfred Lenz, zu dieser Zeit irgendwie ein seltsamer Vogel. War er mit sich allein in seiner Parterrewohnung mit dem im Winter zugefrorenen Außenklo, dann war er der verträumte, einsame junge Mann, der Bücher in sich hineinfraß und regelmäßig ins Theater oder ins Kino ging; in der Brigade spielte er den Cowboy, der Spaß haben wollte, schuften konnte, wenn es denn unbedingt sein musste, und immer mal wieder mit den anderen durch die Kneipen zog.
Das ging so, bis er eines Tages ein Erlebnis hatte, das ihm zu denken gab: Ein Stapel Kupferbarren war über ihn hinweggeschwebt, ein Barren löste sich und krachte nur wenige Zentimeter neben ihm zu Boden. Schlug ein wie eine Bombe. Er hatte den Stapel nicht
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