Krokodil im Nacken
Fluss getrennt. Im mit Bandeisen, Fernmeldekabeltrommeln, Drahtrollen und allerlei anderen Materialien voll gestopften Keller dieses Gebäudes händigte ihm eine alte Frau mit dem Gesicht einer Schildkröte seine Arbeitskleidung aus. Mariechen, wie die Alte nur genannt wurde, hatte fast ihr gesamtes Leben in diesem Drahtverhau mit der einsam und trübe über ihrem Kopf schaukelnden Glühbirne verbracht. Eine Zigarettenkippe zwischen den Lippen, musterte sie Lenz von oben bis unten, dann warf sie einen bereits sehr verschlissenen Arbeitsanzug auf den Tisch mit der abgestoßenen Wachstuchdecke, hinter dem ihr Reich lag. Als sie sein Zögern bemerkte, knurrte sie: »Passt dir wat nich?«
Eine Stimme, die an einen knarrenden Sargdeckel erinnerte. Lenz wollte antworten, dass das fadenscheinige Zeugs ja keine drei Tage mehr halten würde, doch sie kam ihm zuvor: »Wenn du ’n Jeschenk für mich hast, kiek ick mal nach, ob ick nich noch wat Besseret finde.«
Er schenkte ihr fünf Zigaretten und sie händigte ihm einen völlig neuen, dunkelblauen Arbeitsanzug, nagelneue Arbeitshandschuhe und ein Paar bisher ebenfalls noch ungetragene, gut passende Arbeitsstiefel aus. Als er sie anstrahlte, vervielfältigten sich die Jahresringe in ihrem Gesicht: »Bist ’n Süßer.« Hätte er nicht zugesehen, dass er mit seiner Beute davonkam, hätte sie ihm vielleicht noch ans Kinn gefasst.
Er war der Brigade Rattler zugeteilt worden, die sich zu jeder Schicht vor dem Meisterbüro traf. Gleich links von der großen, stählernen Eingangstür zum Rohstofflager lag es; ein hellgrün gestrichener, hölzerner Fensterverschlag mit fünf in der Mitte zusammengeschobenen Schreibtischen, und an den Wänden zwei schon ein wenig verstaubte Parolen: Mit Elan erfüllen wir den Plan und Jeder Mann an jedem Ort einmal in der Woche Sport . Rechts vom Eingang befand sich die Stechuhr, an der Stirnwand gleich gegenüber wurden in einer wuchtigen Maschine Drahtreste zu Ballen aufgewickelt. Ein einarmiger junger Mann in einem Hemd mit abgeschnittenen Ärmeln bediente sie. Lenz, der an diesem ersten Tag viel zu früh gekommen war, stellte sich zu ihm, bot ihm eine Zigarette an und versuchte, den nur wenig älteren ein bisschen auszuhorchen. Wie es denn hier so wäre, was er künftig alles würde tun müssen. Der Einarmige, ein schmaler, blass wirkender Bursche, nahm die Zigarette und ließ sich Feuer geben, arbeitete aber weiter, ohne auf Lenz’ Fragen einzugehen. Bis er plötzlich innehielt, sich zu Lenz umdrehte und schelmisch grinsend fragte: »Weißte, wo ich meinen Arm gelassen habe?«
Lenz schüttelte nur den Kopf.
»Hier!« Der Einarmige deutete auf die Maschine. »Dit olle Ding hat ’n jefressen.«
Lenz wollte fragen, wie das denn passiert sei und wie man an einer so schrecklichen Maschine weiterarbeiten konnte, wagte es aber nicht. Dieser junge Mann schien ihm etwas seltsam zu sein. Später erfuhr er, dass Theo, so hieß er, mit seinem linken Hemdärmel in die Drahtreste geraten war, die fortwährend in die rotierende Walze der Maschine hineingezogen wurden. Er habe dabei so unglücklich gestanden, dass er mit der rechten Hand nicht auf den Notknopf schlagen konnte, der die Archive zum Stillstand gebracht hätte. Auf seine Schreie hin sei man aus dem Meisterbüro herbeigeeilt, doch da sei der Arm schon bis über den Ellenbogen in der Maschine verschwunden und Theo ohnmächtig davor zusammengesunken. Sechs Wochen sei er fortgeblieben, eines Tages aber sei er zurückgekehrt. Doch wohin mit ihm? Eine Bürotätigkeit kam wegen seiner mangelnden Schulbildung nicht infrage, jede andere Arbeit für einen Einarmigen erst recht nicht. So hatte er denn auf eigenen Wunsch seine alte Arbeit fortgesetzt. Dazu brauchte er ja nicht unbedingt zwei Arme. Allerdings schnitt er sich an seinen Arbeitshemden beide Ärmel ab. Der linke war überflüssig, der rechte sollte ihm nicht auch noch Kummer machen.
An jenem ersten Tag wusste Lenz davon noch nichts. So beobachtete er nur still, wie der ihn kauzig anmutende Einarmige arbeitete. Die Zigarette im Mundwinkel, öffnete der junge Bursche an seiner Maschine eine Klappe, die zum Ballen aufgewickelten Drahtreste fielen heraus, er schlug einen Haken in den Ballen, hob ihn auf und schleuderte ihn so schwungvoll durch den Raum, dass er punktgenau bei seinen Vorgängern landete. Gleich darauf stopfte er neue Drahtreste in die gierig alles in sich hineinfressende Maschine. Nein, Angst hatte er offensichtlich nicht vor
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