Krokodil im Nacken
seiner Karre übers Werkgelände, den John-Wayne-Hut in der Stirn, mal hier grüßend, mal dort etwas hinüberwitzelnd. Außerdem war er nach einem Tag auf dem Elektrokarren am Abend nicht kaputt, sondern konnte mit seiner Freizeit noch etwas anfangen.
Ein Alaska-Abenteuer erlebten sie im kalten Winter ’63, als sie eines Nachts bei minus siebenundzwanzig Grad Waggons mit Kupferdraht entluden. Wie mit Messern schnitt ihnen die Kälte ins Gesicht, die Zähne wurden ihnen taub, sie trugen Ohrenschützer und atmeten schwere Dampfschwaden in die Luft. Damit ihnen nicht die Nasen abfroren, mussten sie sich alle halbe Stunde im Wiegehäuschen, am bullernden Kanonenofen, mit heißem Tee langsam wieder auftauen.
Romantisch war es im Sommer, wenn sie eine Nacht erwischten, in der kaum Waggons kamen. Dann saß die ganze Truppe am Flusskai, rauchte, quatschte und starrte in den Mond, der unter ihnen im Fluss schwamm. Und der alte Bertram warnte unentwegt: »Setzt euch nicht auf die Kupperbarren, Jungs, sonst gibt’s Winterkirschen im Arsch.«
Solch ruhige Nächte waren aber auch in kälteren Jahreszeiten sehr gemütlich, wenn die einen im warmen Keller pennten und die anderen – Lenz immer dabei – im Meisterbüro Skat kloppten.
Zur Legende wurde die Geschichte der vier Grusmänner – einer von ihnen Lenz –, die am Ende einer Nachmittagsschicht einen Rappel bekamen und in ihren schwarz gestäubten Klamotten und mit den Spuren von zwei Waggons Kohlengrus im Gesicht über die Mauer kletterten, um die Stumpfe Ecke zu entern, die Bierkneipe gleich gegenüber dem Haupttor. Sie verspürten den dringenden Wunsch, sich ein paar Flaschen Bier mit unter die Dusche nehmen. »Hier kommt das unterjochte Afrika«, begrüßten sie den Wirt. »Rück acht Flaschen Bier raus und schreib an. Oder biste etwa nicht für Solidarität?« Ihr Geld steckte ja in der geschonten Arbeitskleidung.
Die Geschichte ging im Werk herum und trug jedem der vier eine Verwarnung ein. Es war verboten, während der Arbeitszeit das Werk zu verlassen, verboten, über die Mauer zu steigen, verboten, während der Arbeitszeit Alkohol zu trinken. Die vier Afrikaner jedoch waren der Meinung, zuerst einmal hätte das Entladen von Kohlengrus verboten oder jeder Waggon mit mindestens drei Wochen Kuraufenthalt entgolten werden müssen.
Eine bunte Truppe war sie, die Brigade Rattler, ein lustiger Haufen. Lenz fühlte sich nicht unwohl unter ihnen. Zwar waren sie nicht das, was man eine verschworene Gemeinschaft nennt, doch gab es unter ihnen keine Intrigen, kein Gemogel und kein Führungsgerangel. Jeder war nur der, der er war. Der Versuch, sich vor unangenehmen Arbeiten zu drücken, war erlaubt; war jedoch kein Entkommen möglich, schindete jeder sich ab, als gäbe es außer dem Lohn noch einen Ehrenpreis zu gewinnen.
Dass Lenz arbeiten konnte, hatte ihm die Achtung der Männer verschafft. Sie nahmen den Achtzehn-, Neunzehnjährigen mit, wenn sie nach Feierabend – mal sonnenverbrannt, mal winterverfroren – in der Stumpfen Ecke ihre Besäufnisse starteten; bald gehörte er wie selbstverständlich dazu. Sollte er denn immer nur in seiner Bude in der Dunckerstraße herumhängen, immer nur lesen? Hier war Leben, hier war was los.
Andere Männlichkeitsproben waren »der Barren« und »der Kran«. Beim »Barren« ging es darum, einen Bleibarren in der weit ausgestreckten Hand zu halten. Wer länger als zwanzig Sekunden aushielt, gewann einen Kasten Bier. Das hatte bisher aber nur Kuppe Kupinski geschafft, kein anderer. Beim »Kran« musste man sich in Unterhose in die Drahtseile des Krans stellen und sich über der Spree den Kai entlangfahren und am Ende in den Fluss hinabtauchen lassen. Jimmy Busch, der Zweite Kranführer, spielte dieses Spiel nur so lange mit, bis die Fußsohlen des Täuflings benetzt waren; Toni Stawitzke, Erster Kranführer und stellvertretender Brigadier und in früheren Zeiten stolzer Fähnleinführer bei der HJ, brachte es fertig, den Täufling bis zum Hals in den Fluss zu tauchen.
Lenz glaubte, dass es Stawitzke juckte, den einen oder anderen von ihnen mal völlig in der Spree verschwinden zu lassen; Stawitzkes größtes Talent aber war, sich zusammennehmen zu können. Zwar fühlte sich der ewige Hitlerjunge als des Führers letzter Getreuer, bewunderte das Dritte Reich, das er nur so kurz genießen durfte, von hinten bis vorn und kannte alle Nazi-Größen, Generäle, Jugendführer und Großbauwerke jener Zeit mit Namen, gleichzeitig aber
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