Krokodil im Nacken
bevor Sie antworten. Hier geht es darum, Erziehungsmaßnahmen für Sie und Ihre Frau festzulegen. Mir scheint, Sie haben das immer noch nicht begriffen.«
Diese Frau, die nicht mal wusste, was Recht und Unrecht war, redete von »Erziehung«? Und tat auch noch so, als hätte dieses Gericht irgendwelche Befugnisse? Sie durfte sich ein bisschen empören, diese blonde Henne, durfte ein bisschen gackern und ein paar Unterschriften leisten, die Eier legten andere.
Noch ein paar Fragen, auf die Lenz mal unwillig, mal belustigt antwortete, dann war die Vertreterin der Anklage bedient. Dieser Angeklagte zeigte keinen Funken Einsehen, begriff nicht, dass seine Frau und er mit ihrer Flucht neben der Sicherheit ihres Staates auch noch den Weltfrieden gefährdet hatten.
Dr. Rose erhob sich und stellte ein paar Fragen zu Lenz’ Verhältnis zu seinen Kindern, um zu beweisen, was für ein toller Vater er, was für eine tolle Mutter Hannah gewesen war, dann setzte er sich wieder. Mehr könne er nicht für sie tun, besagte sein Gesichtsausdruck.
Es folgte das Plädoyer der Staatsanwältin. Ohne große Gesten, aber mit oft böse funkelnden Augen schilderte sie noch einmal Tat und Tathergang und geißelte in einer längeren Rede die unverantwortliche Haltung der Eltern Lenz, die ihre Kinder mal in den Westen entführen, mal in den Westen verschleppen wollten, um sie dort einer ungewissen Zukunft auszusetzen. Sie bezeichnete Hannah und Manfred Lenz als charakterschwache Persönlichkeiten, die auf billige Feindpropaganda hereingefallen seien, gleichzeitig aber auch als gefährliche Subjekte, die mit äußerster Raffinesse vorgegangen seien und beträchtliche kriminelle Energien aufgebracht hätten, um an ihr Ziel zu gelangen. »Als besonders verwerflich ist das Verhalten der Hannah Lenz zu werten. Wir haben sie in unserer Republik aufgenommen und ihr Arbeit, Unterkunft und eine Heimat geboten. Sie hat unserem sozialistischen Staat diese Großzügigkeit mit Verrat gedankt und weder in diesem Verfahren noch während der Vernehmungen durch die Sicherheitsorgane unserer Republik ein der Schwere der Tat angemessenes Schuldbewusstsein oder das Streben nach Wiedergutmachung erkennen lassen.«
Einen noch schwerer wiegenden Verrat am sozialistischen Staat aber habe ohne Zweifel Manfred Lenz begangen: »Ein junger Mann, der in unserem Staat alle Möglichkeit erhielt, sich zur sozialistischen Persönlichkeit zu entwickeln, zieht es vor, diesen Staat auf infamste Weise zu hintergehen. Einer, dem wir vertrauten, erwies sich als verkappter Gegner unserer humanitären Ideale. Einer, der wissen musste, dass er sich auf der Seite des Fortschritts befand, entpuppte sich als Karrierist, der nur das eigene Wohlergehen im Auge hatte und nicht einmal merkte, wie sehr er sich von westlichem Talmi blenden ließ. Jedes Schamgefühl ist ihm fremd.«
Lenz lächelte Hannah zu: Endlich sagt uns mal jemand, wer wir wirklich sind!
Die Arbeitermacht in Person hatte dieses Lächeln gesehen. Zornsprühend näherte sie sich dem letzten Punkt in ihrem Plädoyer: dem Strafantrag. Zwar sei beiden Angeklagten zugute zu halten, dass sie nicht vorbestraft seien und einen guten Leumund hätten, aber in Anbetracht der Schwere der Tat und im Hinblick auf die zweifelsfrei vorhandene negative, ja feindselige Einstellung zur sozialistischen Gesellschaft seien mildernde Umstände durch nichts zu rechtfertigen. Nur eine angemessene Haftstrafe könne zur Resozialisierung der beiden Angeklagten beitragen. Sie holte noch einmal kurz Luft und dann kam es: Zwei Jahre und zehn Monate für Hannah Lenz; zwei Jahre und zehn Monate für Manfred Lenz. Sie setzte sich wieder und ordnete unwirschen Blicks ihre Papiere.
Lenz spürte, wie ihm alles Blut aus dem Kopf wich. War ja klar, dies war die Strafzeit, die die Stasi ihnen zugedacht hatte; das Gericht würde keine fünf Minuten unter diesen zwei Jahren und zehn Monaten bleiben. Er aber hatte, nachdem bis auf den illegalen Grenzübertritt und die staatsfeindliche Verbindungsaufnahme alle anderen Anklagepunkte weggefallen waren, mit nicht mehr als zwei Jahren gerechnet. Dann hätten sie schon in einem halben Jahr die Hälfte der Strafe abgesessen; nach Hahne spätester Termin für ihre Ausreise …
Auch Hannah war bleich geworden, blieb aber gefasst. Stumm starrte sie in sich hinein. Sie wollte jetzt nicht weinen, nicht vor dieser Staatsanwältin, diesem Richter, der Stasi-Mannschaft in der letzten Reihe der Zuhörerbänke.
Dr. Rose
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