Krokodil im Nacken
Grenzdurchbruch zu wagen?«
»Wenn uns die legale Ausreise nicht gestattet wird, bleibt uns ja gar nichts anderes übrig.«
Ein Pokerspiel! Sie sollten wissen, dass mit Hannah und Manfred Lenz nicht mehr zu rechnen war.
»Sie wären also bereit, ein zweites Mal die Gesetze der Deutschen Demokratischen Republik zu brechen?«
Lenz zögerte: Sollte er es sagen oder nicht? Doch da war es schon heraus: »Was sind das denn für Gesetze, die jedes Menschenrecht missachten? In Wahrheit trägt jeder Mensch die Gesetze, die er zu akzeptieren gewillt ist, doch in sich. Unmenschliche und deshalb unakzeptable Gesetze können meine Frau und ich nicht anerkennen.«
Der Richter, wütend: »Ich habe Ihnen nun schon mehrfach gesagt, Sie sollen hier keine Hetzreden halten. Richten Sie sich endlich danach oder ich belege Sie mit einer zusätzlichen Ordnungsstrafe.«
Die Staatsanwältin schoss wieder Giftpfeile ab. Wie gern hätte auch sie diesem Angeklagten noch etwas Passendes gesagt! Doch nun zog sich das Gericht zur Beratung zurück.
Wieder die Holzverschläge. Es vergingen aber nur wenige Minuten, dann wurden die Angeklagten in den Gerichtssaal zurückgeführt. Das Hohe Gericht hatte seine Entscheidung gefällt: Zwei Jahre und zehn Monate für Hannah Lenz, zwei Jahre und zehn Monate für Manfred Lenz. Damit entsprach das Urteil in allen Punkten dem Antrag der Staatsanwältin. Sie zeigte sich davon nicht überrascht, Dr. Rose zeigte sich nicht überrascht, die Stasi-Leute waren es nicht und die Angeklagten auch nicht.
In der Urteilsbegründung wurde erneut alles zusammengefasst: Tat, Tathergang und die Verantwortungslosigkeit der Eltern Lenz; der gesellschaftsgefährdende Charakter der Straftat; die Gefährdung der Sicherheit und Ordnung an der Staatsgrenze; die schwerwiegende Verletzung der staatsbürgerlichen Treuepflicht. Am Ende dann die Bestätigung der von der Staatsanwältin vorgebrachten Einschätzung, nur eine unbedingte, in ihrer Höhe abschreckende Gefängnisstrafe könne die Angeklagten auf den rechten Weg zurückführen. Bei guter Führung allerdings gebe es die Möglichkeit einer vorzeitigen Haftentlassung. So habe es das Ehepaar Lenz fortan selbst in der Hand; sie könnten noch immer vollwertige Mitglieder der sozialistischen Gemeinschaft werden. Und, ach ja, innerhalb einer Woche könne gegen das Urteil Berufung eingelegt werden.
Der Richter fragte, ob sie das Urteil annähmen. Dr. Rose riet ihnen zu. »Dann geht alles schneller.«
Meinte er damit ihre Ausreise – oder nur die Eingliederung in den Strafvollzug? Egal! Was für einen Sinn sollte es haben, Revision einzulegen? Welches übergeordnete Gericht würde zu einem anderen Urteil gelangen? Hannah und Manfred Lenz nahmen das Urteil an, die Hauptverhandlung war geschlossen.
Bevor sie wieder in den Fischlieferwagen zurückgeführt wurden, durften sie sich noch von Dr. Rose verabschieden. »Hauptsache, keine Bewährung!«, sagte Lenz zu Hannah. »Dann hätte alles wieder von vorn begonnen.« Und: »Ich liebe dich.«
Sie nickte unter Tränen. »Ich dich auch.«
Dr. Rose kam sich überflüssig vor.
2. Schiete am Schuh
E s ging nach Rummelsburg, ins Stadtgefängnis. Diesmal aber war es kein kleiner Lieferwagen, in dem Lenz von Haus zu Haus spediert wurde, sondern ein großer, grauer, kastenförmiger Gefangenentransporter. Knie an der Zellentür, Gesicht zum Gang, in den handschellenverzierten Händen Hannahs Kuchen, saß er in dem Verschlag. Zu seinen Füßen eine Plastiktüte, Inhalt: sein Tabak, Zigarettenpapier, der »Rolli« zum Drehen seiner Stäbchen, Zahnbürste, Zahnpasta und ein Stück harte Wurst, ebenfalls von Hannah. Der Wagen rumpelte über Kopfsteinpflaster, der Kuchen duftete zu ihm hoch; er hatte mal wieder das Gefühl, in einem surrealistischen Film mitzuspielen.
Rummelsburg! Auch »Ochsenkopf« oder »Haus am See« genannt, das älteste Gefängnis der Stadt, Mitte des 19. Jahrhunderts erbaut. Dort hatte der bucklige Kurt schon eingesessen, der Einbrecherkönig, der im Ersten Ehestandsschoppen verkehrte und sein Talent auch an Mutters Kasse ausprobieren wollte, und dort hatte Hanne Gottlieb ein ganzes Jahr zubringen müssen. Die Bedrohung, eines Tages ebenfalls in dem riesigen, weit verzweigten Gefängniskomplex zu verschwinden – wer auf der Insel hatte sie nicht verspürt? Man musste ja nur einmal »ausrutschen«, wie Seeler das genannt hatte; lag ja nur ein Flussarm zwischen dem Jugendheim und dem Knast. Oft waren sie mit der
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