Krokodil im Nacken
Urlaub belohnt wurde. Ich wollte so viel wie möglich bei meiner Familie sein.« Mehr wollte Lenz dazu eigentlich nicht sagen, hatte ja alles gar keinen Sinn, aber dann brach es doch aus ihm heraus: Hätte er die letzten zehn Jahre etwa damit zubringen sollen, durch Faulheit zu glänzen? Er habe oft gute Arbeit geleistet, weil schlechte Arbeit keinen Sinn ergeben hätte. Oder hätte er den Staat, in dem er lebte, etwa boykottieren sollen? »Dann hätten Sie mich jetzt auch noch wegen Sabotage anklagen können.«
Die Protokollführerin gab dem Richter Signale: Der Angeklagte sprach zu schnell, sie kam nicht mit.
Der Richter erteilte Lenz zwei Ermahnungen: Erstens, er solle langsamer sprechen, zweitens, er solle hier keine Hetzreden halten.
Lenz: »Wollen Sie die Wahrheit hören?«
Der Richter: »Was denn sonst?«
»Weshalb ermahnen Sie mich dann, wenn ich wahrheitsgemäß aussage? Ich denke, Sie wollen in Erfahrung bringen, was ich für einer bin.«
Die in der letzten Reihe der Zuhörerbänke wurden unruhig. Ein Angeklagter, der sich als Richter aufspielte? So etwas durften sich nur überzeugte Kommunisten in Defa -Filmen leisten.
Die Staatsanwältin, aufgebracht: »Wenn Sie zur Sache antworten, reicht das schon.«
Lenz blickte zu Dr. Rose hin. Der sah erschrocken auf: Soll ich eingreifen? Tut mir Leid, ich sehe keinen Angriffspunkt.
Die Staatsanwältin: »Sie sind vor einem Jahr aus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft ausgetreten. Sind Sie ein Feind der Sowjetunion?«
Lenz: »Ich bin keines Landes Feind und auch gegen die Menschen in der Sowjetunion habe ich nichts. Was ich ablehne, ist eine vom Staat angeordnete, institutionalisierte Völkerfreundschaft. Weil die nichts bringt. Da tritt man doch nur ein, um seine Ruhe zu haben: Seht her, ich bin ein fortschrittlicher Mensch! Was man wirklich denkt, spielt keine Rolle.«
Der Richter: »Mäßigen Sie Ihre Ausdrucksweise, Angeklagter. Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, Sie sollen hier keine Hetzreden halten.«
»Wenn ich gefragt werde, muss ich antworten.«
»Aber kürzer, wenn’s geht!«
»Wenn’s geht – gern!«
Nun hatte auch der Richter in ihm den Feind erkannt. Aber einen von der gefährlichen Sorte, einen, der mit dem Wort umgehen konnte. Das waren offensichtlich die, die ihm schon immer den meisten Ärger gemacht hatten; solche, die sich einbildeten, ihn nicht besonders ernst nehmen zu müssen. »Noch Fragen zur Person?«
Die Staatsanwältin schüttelte den Kopf, Dr. Rose war ebenfalls restlos zufrieden. Also weiter im Programm: Tatbestandsaufnahme!
Wieder wurde zuerst Hannah vor den Richtertisch gerufen: Wann und in welchem Zusammenhang hatte das Ehepaar Lenz zum ersten Mal über die Möglichkeit eines illegalen Grenzübertritts nachgedacht? Erwähnte zuerst die Fluchthelferin Möller diese Möglichkeit, oder war es nicht doch der Angeklagte Lenz, der die Frage aufwarf? Wie verliefen die Fluchtvorbereitungen, wer kümmerte sich um was? Als Hannah eingestand, in dieser Zeit große Angst gehabt zu haben, lehnte der Richter sich zufrieden zurück: »Na, das ist ja wohl das Mindeste, was man erwarten darf, wenn man ein Verbrechen plant.« Als Hannah ausführte, dass Lenz und sie erst in Bulgarien endgültig entscheiden wollten, ob sie den illegalen Grenzübertritt wagen sollten oder doch lieber nicht, dass es also zum eigentlichen Fluchtversuch noch gar nicht gekommen war, da erregte sich die Staatsanwältin: »Es spielt keine Rolle, dass Sie die Grenze zur Türkei noch nicht erreicht hatten. Das wird man Ihnen während der Vernehmungen doch wohl schon gesagt haben. Der illegale Grenzübertritt fand statt, als Sie unter Vorspiegelung falscher Tatsachen mit erschlichenen Reisedokumenten die DDR verließen. Alles andere sind reine Schutzbehauptungen. Außerdem, so steht es in Ihren Akten und so hat es Ihr Mann eben erst lauthals verkündet, wollen sie ja noch immer in die BRD. Wieso tun Sie jetzt, als hätte gar kein Fluchtversuch stattgefunden?«
Hannah, mit fester Stimme: »Wenn wir uns die Flucht noch einmal überlegt hätten, dann allein aus Furcht vor einer Verhaftung. Wegen unserer Kinder … Jetzt ist die Situation eine andere: Wir werden, egal, zu welcher Strafe wir verurteilt werden, in jedem Fall die Ausreise in die Bundesrepublik beantragen. Nach dem, was wir inzwischen erlebt haben, können wir erst recht nicht bleiben.«
Der Richter: »Weshalb haben Sie denn vor Ihrer Flucht keine legale Ausreise beantragt?«
»Weil man uns die
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