Krokodil im Nacken
Mistbiene , ihrem selbst gebauten Paddelboot, an den vielen zwei- und dreistöckigen roten Backsteinbauten mit den vergitterten Fenstern vorübergerudert. Entdeckten sie eine Hand zwischen den Gitterstäben, die ihnen zuwinkte, winkten sie zurück; drohte ihnen, weil sie sich zu dicht herangewagt hatten, von einem der Türme ein Wachposten, zeigten sie ihm – rasch abdrehend – einen Vogel.
Was für ein Hohn! Er, Manfred Lenz, der befürchtet hatte, seine Spree nicht wiederzusehen, nun lernte er sie auch noch von dieser Seite her kennen! Was der Seeler wohl sagen würde, sollte er davon erfahren? Wahrscheinlich würde er zufrieden nicken, hatte er dem Lenz zuletzt doch ein schlimmes Ende prophezeit: »Der Weg war vorgezeichnet!«
Der Wagen hielt, noch aber wurde der Motor nicht abgestellt.
Standen sie schon vor dem stählernen Gefängnistor zwischen all dem roten Ziegelwerk, das jeder kannte, der mal daran vorbeigefahren war? Das Tor zum Ende der Welt, wie sie als Jugendliche gern gespottet hatten? Lenz starrte seinen Kuchen an. Erst wenige Stunden zuvor hatte Hannah ihm den in die Hand drücken dürfen. Dazu die harte Wurst, ein paar Zigaretten und Bonbons. Die Stasi hatte ihnen einen letzten Sprecher genehmigt und Hannah ihm in diesen viel zu rasch vorüberfliegenden fünfzehn Minuten berichtet, dass sie auch als Strafgefangene im Hohenschönhausener Untersuchungsgefängnis bleiben würde und bereits zur Arbeit eingeteilt sei: in der Küche, als Beiköchin. Man habe ihr erlaubt, ihm den kleinen Sandkuchen zu backen und ihm die mit ihrem Einkaufskonto verrechneten Geschenke zu überreichen. Er hatte ihr sagen wollen, dass sie die zwei Jahre und zehn Monate ganz gewiss nicht absitzen mussten; nur noch ein paar Monate und Silke, Micha, sie und er wären wieder beisammen. Doch da war ja diese Stasi-Kuh mit dem dicken Busen, die zwischen ihnen saß und jedes einzelne Wort mitverfolgte. Und er wollte doch nicht wieder rausgeschickt werden wie am Heiligen Abend, sondern so lange wie möglich bei Hannah bleiben. Also streichelte er nur immer wieder ihre Hände und sagte ihr, dass bald alles gut sein werde. Das war unverfänglich, damit konnte die Stasi-Monroe nichts anfangen. Damit konnte aber auch Hannah nichts anfangen; sie musste es für einen ganz dummen, oberflächlichen Trost halten. Immer unruhiger werdend, hatte er abgewartet, bis die Sprechzeit fast vorüber war, dann hatte er all das, was er Hannah sagen wollte, doch noch heraustrompetet. Als Überraschungsschlag. Im Stakkato-Tempo. Damit er so schnell nicht unterbrochen werden konnte. »Dr. Vogel wird alles in die Wege leiten. Das ist sein Geschäft. Er ist der Vermittler. Wir werden vom Westen freigekauft«, lauteten seine letzten Sätze.
Ihre vor Schreck sprachlose Bewacherin musste sich erst fassen, dann begann sie zu toben. Er habe hier keine Scheißhausparolen zu verbreiten, noch könne sie ihn zur Ausnüchterung in den Arrest stecken. Er aber sah nur Hannah an. Sie hatte aufmerksam zugehört und nun lächelte sie ihm zu und nickte. Doch glaubte sie ihrem Manne, dem ewigen Optimisten? Hielt sie seine Worte nicht nur für einen neuen Mutmachversuch?
Der Wagen ruckte an und fuhr weiter, aber nur ein paar Meter. Sicher befanden sie sich jetzt in der Schleuse, von der Hanne Gottlieb einst erzählt hatte; ein weiteres Tor musste geöffnet werden.
Ein paar Minuten vergingen, dann ruckte der Wagen erneut an und nun ging es nur noch im Schritttempo weiter; sicher fuhren sie zwischen all den düsteren Backsteinbauten hindurch, um irgendwann vor einem zu halten. Lenz verspürte ein flaues Gefühl: Was würden das für Zellen sein in diesem wilhelminischen Gefängnisbau? Schlimmere noch als in der Magdalena? Welche Mitgefangenen würde er kennen lernen? Alles nur Kriminelle?
Erneut blieb der Wagen stehen und diesmal wurde der Motor abgestellt. Lenz hörte die Tür gehen und kurz darauf, wie am ersten Verschlag der Riegel zurückgezogen wurde. Eine ältere Männerstimme fragte: »Na, sind wir endlich angekommen – am grünen Strand der Spree?«
Er erhielt keine Antwort, aber dass überhaupt etwas gefragt wurde, dass er, Lenz, zum ersten Mal die Stimme eines seiner Mithäftlinge zu hören bekam und der Häftling nicht sogleich gerüffelt wurde – wenn das kein Zeichen dafür war, dass von nun ab manches anders sein würde!
Weitere drei Verschläge wurden geöffnet, dann durfte auch Lenz in den an diesem grauen Apriltag dunkel wirkenden Gefängnishof
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