Krokodil im Nacken
denn?« Der Einarmige tat, als hätte er sich mit seinem Los bereits abgefunden. »Wer gegen ›Teilnehmer am Kampf für den Frieden‹ hetzt, muss doch bestraft werden. Oder etwa nicht?«
Nach dem Duschen wurden sie zur Freistunde geführt. In unförmige, braune, ebenfalls mit gelben Streifen versehene, fast bis zum Boden reichende Mäntel gehüllt, auf dem Kopf ein braunes Käppi, hatten sie in einem engen Hof im Kreis zu marschieren. Ein Strafgefangener, von dem die anderen Häftlinge sich zuflüsterten, dass er vom »anderen Bahnsteig« sei und mehreren kleinen Jungs das »Strammstehen« gelehrt haben sollte, durfte sie kommandieren. Sie sollten gefälligst im Gleichschritt gehen, schrie er alle paar Minuten.
Nie zuvor in seinem Leben hatte Lenz sich so erniedrigt gefühlt.
Dettmers ahnte, wie es in ihm aussah. »Schiete am Schuh?«, fragte er leise.
Ja, dachte Lenz, jetzt hatte er Scheiße am Schuh, war voll hineingetreten in den vor der Außenwelt so sorgsam versteckten Scheißhaufen der Deutschen Demokratischen Republik.
»Lass nur«, tröstete ihn Dettmers. »Irgendwann gibt’s neue Schuhe.« Und grinsend fügte er hinzu: »Maßanfertigung, mein Lieber! Und die Maße bestimmen wir und niemand anderes, kapiert?«
Die erste Nacht in diesem Rummelsburger Sing-Sing. Dettmers hatte sich ins obere Bett gelegt, Lenz ins untere, so blieb das Mittelbett frei und sie konnten sich einreden, wenigstens nachts mal für ein paar Stunden mit sich allein zu sein.
Zuvor hatten sie sich lange über Dr. Vogel und die Chancen einer baldigen Entlassung in die Bundesrepublik unterhalten. Dettmers hatte über Dr. Vogels Arbeitsweise nicht viel gewusst, nur eben dass sie mit ihm den richtigen Anwalt hatten. Er hatte in Hohenschönhausen mit einem ehemaligen Parteifunktionär zusammengesessen, dem verbotene Kontakte zur SPD vorgeworfen wurden. Der gewesene Apparatschik kannte den Namen Dr. Vogel, wusste von dessen Rolle im zwischenstaatlichen Menschenhandel und hatte Dettmers Hoffnungen gemacht, schon bald auf dem Ku’damm sein Bier trinken zu dürfen. Lenz’ Berichte über Hajo Hahnes Geschichten hatten Dettmers begeistert. Er glaubte Hahne jedes Wort. »Dazu sind die fähig. Für ’ne Tüte Linsen und die Weltrevolution tun die alles.«
Jetzt hingen sie ihren Gedanken nach; schlafen konnten sie beide nicht.
Sechs Wochen lag er nun schon zurück, jener Tag, an dem Lenz das über Hannah und ihn verhängte Strafmaß erfahren hatte; sechs Wochen, in denen er immer wieder versuchte, diese knapp drei Jahre, die sich wie eine unüberschaubar hohe Wand vor ihm auftürmten, klein zu rechnen: Acht Monate von diesen vierunddreißig hatten sie hinter sich, also würden sie, wenn es ganz schlimm kam und sie ihre Strafe bis zum letzten Tag absitzen mussten, in sechsundzwanzig Monaten entlassen werden. Was klang hoffnungsvoller, 6 ¾ 4 Monate und ein paar Wochen, 3 ¾ 8 Monate und ein paar Wochen oder 2 ¾ 13 Monate?
Rechnereien, die nichts einbrachten und nicht trösteten, und im Hintergrund immer wieder die Furcht: Was, wenn Hahne ihm nichts als schöne Märchen erzählt hatte? Vielleicht sogar im Auftrag der Stasi, um seine geheimen Gedanken aus ihm herauszukitzeln … Was, wenn Hannah und er diese knapp drei Jahre bis zum Ende absitzen mussten? Dann würden aus Silly und Micha inzwischen ganz andere Kinder geworden sein; »fremde« Kinder, die ihre Eltern vielleicht nicht einmal mehr wiedererkannten …
Gedanken, die in der Einsamkeit seiner Stasi-Zelle kaum auszuhalten waren. Doch dann vergingen immer weitere Wochen und nichts passierte. Keine weitere Vernehmung, kein Abtransport in eine Strafvollzugsanstalt. Da erwachte neue Hoffnung in ihm: Vielleicht wurden Hannah und er ja gar nicht mehr in den normalen Strafvollzug eingegliedert. Wozu denn noch? Ihr Urteil hatten sie weg, die Freikaufverhandlungen liefen – weshalb sollte man sie nicht gleich von hier aus in die Bundesrepublik ausreisen lassen? Laut Hajo Hahne kam so etwas ja vor. – Denk an jene nächtliche Aktion, als so viele Zellentüren aufflogen, Lenz. Vielleicht hatte es sich dabei ja um bereits Verurteilte gehandelt; vielleicht sind Hannah, du und die Kinder in jener Nacht nur deshalb nicht mit auf Transport gegangen, weil ihr noch nicht verurteilt wart? Vielleicht bestimmt auch das Strafmaß den Preis …
Wie groß dann die Enttäuschung, als er an diesem Morgen erfuhr, dass er doch noch auf Transport gehen würde – mit dem Ziel Rummelsburg. Rummelsburg
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