Krokodil im Nacken
einundzwanzig Uhr Nachtruhe, bei Eintritt von Dienstpersonal in den Verwahrraum Meldung erstatten, regelmäßig waschen, Zähne putzen – ja, wenn ihnen das nicht gesagt worden wäre! –, Singen, Pfeifen, Lärmen verboten …
»Wir sind fertig.« Dettmers biss sich auf die Lippen.
Das Rummelsburger Rumpelstilzchen hatte sich inzwischen hinter einen der Schreibtische gesetzt und die Mütze vor sich hingelegt. Ein Berg weißer Haare bedeckte seinen Kopf. Mit seinem Schlüsselbund spielend betrachtete er sie wohlgefällig. »Lass’n Se sich Zeit. Präg’n Se sich alles ein. Lern Se’s auswendig.«
»Jawoll, Herr Obermeister!« Sie blieben vor der Hausordnung stehen und rührten keinen Gesichtsmuskel. Jetzt nur nicht laut loslachen, sonst würde er gleich wieder böse werden.
»Na? Ham Se’s kapiert?«
»Jawoll, Herr Obermeister!«
»Werd ich überprüf’n, meine Herrn. Werd ich überprüf’n.«
Sie durften sich zu ihm herumdrehen und er hielt ihnen einen Vortrag. Seine langjährige Erfahrung im Strafvollzug habe ihn gelehrt, dass es drei Arten von Verbrechern gebe, die üblichen Kriminellen – Einbrecher, Räuber, Gewalttäter –, die Sittenstrolche und die Politischen. Die Sittenstrolche und die politischen Häftlinge hätten oft den meisten Grips, dennoch dürften sie sich nicht einbilden, etwas Besonderes zu sein. »Hier sind nämlich alle gleich, denn auch Politische sind nur Kriminelle. Präg’n Se sich das ebenfalls ein, meine Herrn.« Er lächelte wie ein Markthändler, der ihnen ein großzügiges Angebot gemacht hatte, breite Zahnlücken waren zu sehen. »Kooperiern Se! Dann sind wir bald die besten Freunde.«
Fünfunddreißig Jahre, rechnete Lenz. Dann hatte dieser kleine alte Mann in Adolfs Blütezeit hier angefangen. Mit politischen Häftlingen dürfte er es zu jener Zeit aber kaum zu tun bekommen haben, die saßen woanders ein. Seine Hauptkundschaft waren wohl eher die buckligen Kurts gewesen. Sollte er ihn mal fragen, ob er ihn gekannt hatte, den ehemals so berühmten Einbrecher vom Prenzlauer Berg?
»So! Nu aber zack, zack!« Plötzlich sprang er auf, drückte sich seine Mütze wieder in die Stirn und straffte sich, der kleine Polizeiobermeister. »Wir haben heute noch so einiges zu erledig’n. Wenn Se nich auf Ihre Freistunde verzicht’n woll’n, müss’n Se sich sput’n.«
Es ging in die Effektenkammer. Die Stasi-Knastkleidung musste abgegeben und die Strafvollzuguniform empfangen werden: braune, rotbraune oder schwarz eingefärbte ehemalige Polizistenuniformteile mit knallgelben Streifen an beiden Hosenbeinen und auf dem Rücken; Markierungen, die den Wachposten im Falle einer Flucht ein treffsicheres Schießen erleichtern sollten. Ihre Privatkleider – ihre wahren Effekten –, so hatte man ihnen in Hohenschönhausen mitgeteilt, würden nachgeliefert. »Die brauchen Se ja vorerst nicht.«
Bevor sie in die frisch gereinigten Lumpen steigen durften, wurden sie aber erst noch unter die »Dusche« geschickt; ein System aus Wasserrohren, das sich in gut zwei Metern Höhe quer durch einen ungefliesten Raum zog. Das Wasser kam aus den zahlreichen Löchern in diesen Rohren. Kaum war es angestellt, spritzte es von allen Seiten auf die zwölf Gefangenen herab, die sich zur gleichen Zeit in diesem Raum befanden.
»Besser als Gas«, witzelte ein junger Bursche. Einige lachten, andere blickten bestürzt: Dieser Raum mit seinem Rohrsystem – er hätte tatsächlich die Szenerie für einen KZ-Film abgeben können.
Ein schon etwas älterer, schütterhaariger, einarmiger Mann, der sich mit Lenz und Dettmers die Seife teilte, wollte wissen, in welchem Untersuchungsgefängnis sie gesessen hätten. Als er es wusste, stellte er sich ihnen vor. »Ewald Tetjens. Aus Bernau. Stasi Pankow.«
»Flucht?«, fragte Dettmers.
»Witze!«
Er hatte nur Witze erzählt, der Ewald Tetjens. Über Honecker, Ulbricht und all die anderen Unberührbaren an der Spitze des Staates und der Partei. Einer in der Kneipenrunde war nicht echt – und das war’s dann: Paragraph 220; öffentliche Herabwürdigung.
Immer war davon gemunkelt worden und spaßeshalber hatte man ausgerechnet, auf welchem Witz wie viele Jahre Gefängnis standen; Lenz hatte die Schätzungen meist für stark übertrieben gehalten. Jetzt war Gelegenheit, sich sachkundig zu machen: »Und? Wie viel hast du dafür bekommen?«
»Anderthalb Jahre.«
Also doch! Keinerlei Übertreibung. »Was für eine Schweinerei!«, entfuhr es Lenz.
»Wieso
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