Krokodil im Nacken
Hannahs Kuchen in mehrere Stücke. Als sie ihn verdrückt hatten, näherten sie sich übergangslos der Wurst. Irgendwie mussten sie diese neue Situation hinunterspülen. Wenn schon nicht mit Schnaps, dann eben mit Kuchen und Wurst.
Sie hatten den letzten Bissen noch nicht im Mund, als überfallartig die Tür aufflog. Ein kleiner, knorrig wirkender Polizeiobermeister mit starker, die Pupillen zu Kirschen vergrößernder Brille auf der kleinen Knorpelnase stand vor ihnen. Die krummen, in schwarzen Stiefeln steckenden Beine weit auseinander, Schlüsselbund in der rechten Hand, Arme in die Hüften gestemmt, starrte er sie unter seiner tief in die Stirn gezogenen Schirmmütze hervor an.
Still erhoben sie sich von ihren Hockern und starrten zurück.
»Woll’n Se keine Meldung erstatt’n?«
Dettmers trat vor, um etwas zu sagen, das Rumpelstilzchen in der Tür ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen: »Der Kleine nach vorn!«
Lenz brauchte eine Weile, bis er begriffen hatte, dass er gemeint war. Als klein hatte ihn noch niemand bezeichnet, erst recht kein solcher Zwerg. Aber natürlich, Dettmers mit seinen Einsneunzig war länger.
»Meldung!«, blaffte der Gnom.
Lenz fiel ein, dass er ihre Zellennummer noch gar nicht kannte. Er hatte nicht auf die Tür geschaut, als Dettmers und er die Zelle betraten. »Gestatten Sie!« Rasch wollte er um den kleinen Schließer herum, um von außen auf die Tür zu schauen. Der machte einen entsetzten Schritt zurück und wurde vor Zorn krebsrot. »Was unterstehn Se sich! Woll’n Se mich angreif’n?«
»Aber nein!« Lenz wies auf die Tür. »Ich wollt nur nach der Nummer schauen. Wie soll ich denn sonst Meldung erstatten?«
»Sie!«, schrie da das Rumpelstilzchen und machte eine Bewegung, als wollte es sich tatsächlich jeden Augenblick an beiden Stiefeln packen und in der Mitte auseinander reißen. »Sie!«
»Wir bitten um Entschuldigung.« Dettmers sprach so milde, als wollte er ein krankes Pferd beruhigen. »Wir sind doch noch neu hier. Man hat uns in diese Zelle geschoben, es ging alles so schnell, wir hatten gar keine Zeit, uns die Nummer zu merken.«
Das gefiel diesem Wurzelpeter, dass ein so langer, intelligent aussehender Kerl wie Dettmers ihm unter die Schuhsohle kroch. Er beruhigte sich, nannte ihnen ihre Zellennummer – »Sie sind de 107/1 und Sie de 107/2« – und zeigte ihnen, wie sie sich aufzustellen hatten, wenn sie Meldung erstatteten. »Immer der Größe nach, verstand’n? Der kontrollierende Beamte muss die ganze Belegmannschaft sehn könn. Steht’n Langer vorn, könn zwölf Mann hinter ihm stehn, zu sehn is bloß einer. Kapiert?«
»Das ist ganz bestimmt richtig, das haben wir gar nicht bedacht.« Auch Lenz gab sich einsichtsvoll. »Sie haben sicher sehr viel Erfahrung in Ihrem Beruf.«
Ein kurzer misstrauischer Blick – wollten diese beiden Neulinge ihn etwa auf den Arm nehmen? –, dann die knappe Frage: »Was hab ich für’n Dienstgrad?«
Lenz blickte ihm vorsichtshalber noch mal auf die Schulterstücke – drei silberne Sterne –, dann antwortete er geduldig: »Sie sind Polizeiobermeister.«
»Erstaunlich, dass Se das wissen! Aber wenn Se’s schon wissen, dann red’n Se mich gefälligst auch so an, verstand’n?«
Dettmers: »Jawohl, Genosse Obermeister!«
»Nicht Genosse! Wir sind hier im Strafvollzug, nicht bei der … nicht woanders! Herr heißt das bei uns, Herr Obermeister!«
Dettmers: »Jawohl, Herr Obermeister!«
Der kleine Mann in der dunkelblauen Uniform blickte sie noch einmal nacheinander an, dann klapperte er zufrieden mit dem Schlüsselbund. »Seit fünfunddreißig Jahrn bin ich im Dienst. Hab was erlebt mit euch Brüdern. Kenne eure Tricks in- und auswendig. Bin kein Schikaneur, aber pariert muss werd’n, verstand’n? Ohne Zucht und Ordnung geht hier gar nichts.«
Sie nickten ernsthaft. Wenn er es in fünfunddreißig Jahren nicht weiter als bis zum Polizeiobermeister gebracht hatte, konnte er keine große Leuchte sein, dieser Herr über alle Strafgefangenen. Aber immerhin: Er war lustig; wer den zu nehmen verstand, konnte ihn um den kleinen Finger wickeln.
Großzügig winkte er sie aus der Zelle: »Komm Se mal mit.« Sie folgten ihm in ein kärglich eingerichtetes Dienstzimmer, und er befahl ihnen, sich eine an der Wand hängende, gerahmte Hausordnung durchzulesen.
»Jetzt gleich?«
»Selbstverständlich! Sonst mach’n Se morg’n wieder Mist.«
Brav stellten sie sich vor die Gebotstafel und lasen: Sechs Uhr Wecken,
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