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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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als die Minna sich endlich in Bewegung gesetzt hatte, fragte er: »Wen habt ihr denn in die Kacke jeschubst?«
    »Den Staat«, antwortete Dettmers.
    Der junge Mann überlegte ein Weilchen. »Politische?«
    »Erraten. Und du?«
    Er grinste, was nicht so recht zu der Tätowierung unter seinem Auge passen wollte. »Assi. Wat’n sonst?«
    Asozialer sollte das heißen. Lenz wurde neugierig. »Wie viel bekommt man denn für so etwas?«
    »Bei AE jibt’s keene festen Strafen.«
    »Was ist denn AE?«
    »Na, Arbeitserziehung, du Nachtjacke! Dafür jibt’s immer zwischen zwee- und fünfmal Osterglocken. Biste brav und fleißig, darfste früher wieder raus. Machste auf Hängematte, kannste sitzen, bis dein Arsch ’n Stein is.«
    »So viel? Und das nur, weil du nicht gearbeitet hast?«
    Beleidigt starrte der junge Mann erst Lenz und dann Dettmers an. »Kommt ihr vom Sambesi, ihr Nigger? Jeder hat das Recht auf Arbeit, heißt et, aber jeder hat auch die Pflicht dazu. Wat nu mal die unjute Kehrseite vom Sozialismus is. Ick bin ’n asozialet Element – und Dauer-Assis jehören hinter Schloss und Riegel. Erziehung durch Arbeet, dit hatten die Nazis schon druff.«
    Dettmers grinste zweifelnd. »Und ’n kleener Bruch war nicht dabei?«
    »Bruch? Ick höre immer Bruch! Bin doch nicht meschugge, dit is ja ooch Arbeet. Nee, nee, Kutte Naumann tut keener Fliege wat zuleide! Keen Bruch, keen Schmu, keene Keule – nischt!«
    Lenz: »Und wovon haste jelebt?«
    »Von Mama. War eben noch nich abjestillt. So wat kommt vor.« Er kicherte über seine eigenen Worte. »Menschenskinder, wozu soll ick mir denn abrackern, wo ick ja vielleicht morjen schon dot bin?«
    »Biste denn krank?«
    »Krank? Wieso denn krank? Musste krank sein, um zu sterben? Mann, ihr Politischen seid vielleicht weltfremd!« Ein Weilchen starrte er sie noch an, als wären sie nicht ganz richtig im Kopf, dann lehnte er sich zurück und schloss die Augen.
    Sie hielten auf dem Gelände am Ostbahnhof, das dem Güterverkehr zugeteilt war. Die Wagentür wurde geöffnet, ein schnauzbärtiger Polizeimeister winkte. »Rauskommen und in Zweierreihen antreten.« Einer nach dem anderen sprangen sie in die nur von wenigen, trübe funzelnden Lichtern durchbrochene Dunkelheit hinaus, Handschellen klickten, pärchenweise – Lenz an Dettmers gekettet – wurden sie über die finsteren Gleise und danach durch einen langen, ebenfalls nur schwach beleuchteten Tunnel auf einen der Personenbahnsteige geführt.
    Lenz blickte sich um. Der Lenz’sche Schicksalsbahnhof! Hier war Anfang des Jahrhunderts jene Großmutter Martha, die er nie kennen lernen durfte, als ganz junges Mädchen aus Schlesien angereist gekommen, um in Kaisers Berlin in Stellung zu gehen; von hier war sein Vater in den Krieg gefahren, aus dem er nicht mehr wiederkehrte. In einem der riesigen Wartesäle dieses Bahnhofs hatte der kleine Manni als Onkel Willis Sohn an einer großen, aber armseligen Nachkriegs-Kinderweihnachtsfeier der Deutschen Reichsbahn teilgenommen, von einem dieser Bahnsteige aus war der Fernstudent Lenz vier Jahre lang Monat für Monat nach Leipzig gefahren, von einem anderen Hannah, Silke, Micha und er fast auf den Tag genau vor acht Monaten in ihre ganz persönliche Katastrophe gestartet.
    Es waren Reisende auf dem Bahnsteig. Entsetzt blickten sie dem Zug der Gefangenen nach. Die Handschellen, die gelben Streifen auf den Mänteln, die in diesen Klamotten unförmigen Figuren – wie mussten sie auf ihr Publikum wirken! Was aber hätten all diese Männer und Frauen, die sich auf einen gemütlichen Abend in ihrer gemütlichen Wohnung freuten, gesagt, wenn sie gewusst hätten, dass ein großer Teil der Gefangenen nur deshalb in dieser Aufmachung an ihnen vorübergeführt wurde, weil er versucht hatte, vom Ostbahnhof zum Bahnhof Zoo zu gelangen? Mein Gott, mit dem Gedanken hast du ja auch schon gespielt? Oder: Geschieht ihnen recht, wer gegen die Gesetze verstößt, muss bestraft werden? – »Im Namen des Volkes« hatte es vor Gericht geheißen; auf wie viele in diesem Volk konnten ihre Richter sich berufen?
    Die Kriminellen warnten sie vor dem »Grotewohl-Express«, in den man sie verfrachten würde; eine Bezeichnung, die noch aus den fünfziger Jahren stammen musste, als der Name dieses blassen Ministerpräsidenten im Schatten Ulbrichts noch aktuell war. Sie erzählten, dass der Gefängniszug, vor den man sie führen würde, aus lediglich zwei Waggons bestand, die stets an das Ende oder den Anfang eines

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