Krokodil im Nacken
Bauch.
Während der beiden Weihnachtsfeiertage wurden die Schmerzen dann immer unerträglicher, und so schickte sie ihn, kaum hatten die Läden wieder geöffnet, zum Gesundbrunnen, um ihr Tabletten zu besorgen. Die Ostpillen würden ihr ja doch nicht helfen, sagte sie.
Aber auch die Westpillen halfen nicht. Die Mutter lief von einem Arzt zum anderen, jeder verschrieb ihr andere Medikamente; ging es ihr mal besser, dann immer nur für drei Tage.
Im Sommer, als sie, wie fast immer in den letzten Jahren, in Bestensee draußen Ferien machten, waren ihre Wangen dann schon sehr eingefallen. Müde schleppte sie sich durch die Tage. Doch sah er zu ihr hoch, lächelte sie. »Was willste machen – auch die beste Krankheit taugt nichts!« Dennoch sammelten sie gemeinsam Pilze, ließ sie sich von ihm auf den See hinausrudern, unternahmen sie Waldspaziergänge. Sie genoss die Stille und den Duft der Tannennadeln und war stolz auf ihn, wenn er, bäuchlings auf dem Bootssteg liegend, mit dem Kescher einen Krebs nach dem anderen aus dem Wasser hievte.
»So ein Leben lasse ich mir gefallen«, sagte sie eines Abends, als sie Unmengen von Krebsen gegessen hatten, die Grillen zirpten und die Frösche quakten und Onkel Willi noch immer auf dem Bootssteg saß und angelte. Gleich fragte er sie voller Hoffnung, ob es ihr denn nun schon ein bisschen besser gehe, und sie sagte: »Ja. Ein bisschen.« Doch sah er ihr an, dass sie log, und kaum waren sie zurück aus den Ferien, musste er sie ins Krankenhaus bringen. Nach Weißensee. In dasselbe Krankenhaus, in dem sechs Jahre zuvor Wolfgang gestorben war.
Es war ein Augusttag, die Sonne schien, die Menschen in der Straßenbahn hatten heitere Gesichter und auch die Mutter lächelte unentwegt. »Ist doch kein Drama, sich mal im Krankenhaus von Kopf bis Fuß untersuchen zu lassen. Danach wissen wir wenigstens, was ich habe. Sie werden mich richtig behandeln und es geht wieder aufwärts.«
Manni nickte, doch konnte er einfach nicht verstehen, weshalb sie sich ausgerechnet in dem Krankenhaus untersuchen lassen wollte, aus dem schon der Bruder nicht zurückgekommen war. Was nützte es ihnen denn, dass Tante Grit die Ärzte dort kannte?
Danach saß er ewig lange in dem hellen Flur mit den vielen Türen und den weiß gestrichenen Bänken. Erst zusammen mit der Mutter, später allein. Oft stand er auf, ging im Flur spazieren und studierte die Gesichter der Männer und Frauen, die ebenfalls darauf warteten, in eines der Zimmer hinter den Türen gerufen zu werden. In der Mitte des Flures hing eine große, runde Uhr mit einem weißen Zifferblatt und schwarzen Zeigern; je öfter er zu ihr hochblickte, desto langsamer rückten die Zeiger vor.
Es dauerte fast zwei Stunden, bis auch er in den Raum voller Geräte, Instrumente und weißer Tücher gerufen wurde, in dem die Mutter verschwunden war. In Rock und Bluse saß sie auf einer Untersuchungsliege und sagte noch immer lächelnd: »Du musst allein nach Hause fahren, die werden hier ohne mich nicht fertig.« Und sie gab ihm einen Zettel mit, auf dem all die Dinge standen, die sie im Krankenhaus benötigte.
Ob die Mutter geahnt hatte, dass sie nicht wieder heimkehren würde? Manni befürchtete es von der ersten Sekunde an. Die ganze Straßenbahnfahrt über heulte er und später die halbe Nacht, nur im Ersten Ehestandsschoppen sah ihn niemand weinen. Das brachte er nicht fertig; die Gäste hatten mit seiner Angst nichts zu tun.
In den folgenden Wochen besuchte er die Mutter fast jeden Tag, brachte ihr, was sie brauchte, und sah, wie sie immer mehr verfiel. Erst lag sie mit einer anderen Patientin zusammen in einem sehr schmalen Zweierzimmer, dann schob man sie in ein Einzelzimmer. Ein schlechtes Zeichen, wie die Gäste flüsterten, nachdem Else Golden die Mutter dort besucht hatte. An seinem Geburtstag, er wurde dreizehn, tat die Mutter dann noch einmal, was sie all die letzten Jahre über getan hatte, wenn sie ihn darüber hinwegtrösten wollte, dass sie keine Zeit für ihn hatte: Sie schenkte ihm Geld. Fünfzig Mark. »Kauf dir was Schönes«, flüsterte sie. Ihr Lächeln aber blieb an jenem Tag sehr blass. Was soll nur aus dir werden?, fragten ihre Augen.
Auf den Tag eine Woche später, zwei Wochen bevor sie einundfünfzig geworden wäre, starb sie dann. Es war ein Freitag. Am Donnerstagabend hatte er noch mal an ihrem Bett gesessen. Robert, Reni und Tante Grit waren mit ihm hingefahren und hatten ihm vorsichtig beigebracht, dass er sich
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