Krokodil im Nacken
zu Bier und Schnaps zu Schnaps immer lauter und lustiger werdende Runde nicht länger aus. Obwohl Onkel Willi ihn beobachtete, stand er auf und lief zu Tante Grit und Onkel Karl in die Schönhauser Allee. Dort saßen auch Robert und Reni bei Kaffee und Kuchen. Es hatte bereits Erbschaftsstreitigkeiten gegeben, man leichenschmauste getrennt. Die Familie war der Meinung, dass Robert, der ausgebildete Koch, den Ersten Ehestandsschoppen übernehmen sollte – immerhin war es sein Vater, der die Kneipe einst pachtete –, Onkel Willi jedoch meinte, auch einen Anspruch darauf zu haben. So stand fest, dass es zu einem Prozess kommen würde: die beiden Söhne gegen den Stiefvater.
An diesem Nachmittag wurde viel über Mannis Zukunft geredet und am Ende beschlossen, dass der Bruder die Vormundschaft über ihn beantragen sollte. Bei Onkel Willi, so die einhellige Meinung, durfte er nicht bleiben.
Er war damit einverstanden, ahnte aber schon, dass das nicht gut gehen würde. Wo man nicht gebraucht wird, stört man; und wozu hätten Robert, Reni und Kati ihn denn brauchen sollen?
Zweieinhalb Monate dauerte es, dann war die Vormundschaft entschieden und Manni durfte zu Robert, Reni und Kati ziehen. So lange musste er bei Onkel Willi bleiben.
Mit viel Genugtuung sah er, dass der Stiefvater den Ersten Ehestandsschoppen nicht allein führen konnte. Weder war er so tüchtig wie die Mutter noch hatte er ihren praktischen Verstand. Onkel Ziesche zog die Stirn kraus, wenn er die Bücher studierte. Weil Onkel Willi aber nicht ganz dumm war, hielt er schon bald nach einer neuen Frau Ausschau, die ihm den Laden führte. Als Wirt vom Ersten Ehestandsschoppen war er ja eine gute Partie. Es stellte sich auch bald die erste vor: Gertrud Schipprowski, »Tante Trude«, eine kleine, dickliche Frau, die gleich am ersten Abend in Mutters Bett zog. Grund genug für Manni, sich in den ersten Stock zu verdrücken. Er fragte erst gar nicht, ob er das durfte. Nur zu den Mahlzeiten ließ er sich noch blicken. Doch nicht lange, und die etwas naive, wenn auch sehr fleißige Trude, die versucht hatte, seine Sympathie zu gewinnen, zog wieder aus. Sie hatte Forderungen an Onkel Willi gestellt, die er nicht erfüllen wollte. Eine neue »Tante« zog ein: Frieda Klose, noch keine vierzig, ganz hübsch, ganz nett, ganz flott, aber ein Eisberg. Hohe Augenbögen, eine zu kleine, spitze Nase, über Stirn, Augen und Mund eine Spannung, als sei jeder Muskel ihres Gesichts verhärtet.
Frieda Klose warb nicht um Manni, Frieda Klose wollte nur eines: Gastwirtin werden, Chefin im eigenen Haus. Onkel Willi, der kaum fassen konnte, dass eine so junge Frau sich zu ihm alten Knacker ins Bett legte, stand vor ihr stramm.
Kurz vor Weihnachten war es dann so weit, Manni durfte weg von Onkel Willi, und es traf ein, was er vorausgesehen hatte: Es ging nicht gut. Bei der Mutter war er in ungesunder Freiheit aufgewachsen, wie Reni oft sagte, in des Bruders Familie sollte er sich umstellen, anpassen, von Grund auf ändern. Das schaffte er nicht. Wer vom Frosch zum Prinzen werden sollte, musste geküsst werden; doch war da etwa jemand, der ihn küsste?
Kleinigkeiten wurden zu unüberwindlichen Hürden: Bei der Mutter hatte er bis in die Nacht hinein lesen dürfen, bei Robert und Reni hatte er um zehn das Licht auszumachen, egal, ob er schon müde war oder nicht. Dann lag er auf der Küchencouch, auf der ihm abends das Bett gemacht wurde, dachte an die tausend Dinge, die er zu verarbeiten hatte, und wurde immer wacher. Überzeugt davon, dass Lesen besser war, als immer nur zu grübeln, las er heimlich, wurde kontrolliert und es gab wieder Ärger. Pflichten wie Mülleimerrunterbringen kannte er bisher nicht. Auf der Treppe murrte er, das wurde gehört und dann darüber diskutiert, bis er sich endlich schämte. Auf der Herrentoilette im Ersten Ehestandsschoppen war es kein Drama, wenn beim Pinkeln mal der Strahl verrutschte, in Renis Bad war es eine Katastrophe. Und so ging es weiter; es gab nichts, was an ihm stimmte.
Hinzu kam, dass ihm das Theater genommen war. Das Deutsche Theater, zwei Jahre zuvor für sich entdeckt, war ja nun seine große Liebe.
Während eines Schulklassenbesuchs von Nathan der Weise war es mit ihm passiert; schon allein das Äußere hatte ihn zutiefst beeindruckt: der mit rotem Damast ausgeschlagene Theatersaal, der rote Samtvorhang, der riesige Kronleuchter, die stuck- und goldverzierten Ränge hoch über dem Parkett … Sie hatten im obersten Rang
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