Krokodil im Nacken
verabschieden sollte. Die Mutter war schon nicht mehr bei Bewusstsein; doch als er sich über sie warf und nach ihr rief, öffnete sie für einen Moment noch mal die Augen und flüsterte matt: »Manni!« Richtig angesehen hatte sie ihn aber nicht mehr.
Er weinte den ganzen Nachhauseweg über, weinte noch im Bett und schlief erst gegen Morgen ein. Wenig später klingelte das Telefon. Onkel Willi ging hin und nahm den Hörer ab. Erst hörte er nur still zu, dann murmelte er etwas Unverständliches und legte sich wieder hin. Manni wusste dennoch, was passiert war. Er lag da und starrte wie betäubt zur Zimmerdecke hoch. Als er dann aufstand, um zur Schule zu gehen, sagte Onkel Willi ihm, dass die Mutter gestorben sei und er nicht zur Schule müsse, wenn er nicht wolle. Er ging trotzdem. Was hätte er denn sonst tun sollen? Bei Onkel Willi bleiben, der selber hilflos war?
In der Schule verriet er sich nicht. Wie und mit wem hätte er denn darüber reden sollen? Und am Nachmittag ließ er sich durch die Straßen treiben. Ohne Kalle. An diesem Tag hätte jeder gestört. Hände in den Taschen, die Schultern hochgezogen, trieb es ihn an Schaufenstern vorüber, vor denen er manchmal stehen blieb, obwohl er nicht hineinsah, an fremden Menschen vorbei, die er beneidete, weil er sie für nicht so allein gelassen hielt, durch Parkanlagen, in denen Jungen und Mädchen spielten, die ganz sicher nur wenig später mit ihrer Mutter und vielleicht auch ihrem Vater und jeder Menge Geschwister am Abendbrottisch sitzen würden. Allen ging es besser als ihm, davon war er überzeugt.
Auch an den Tagen danach lief er durch die Straßen; durch solche, die ihm vertraut waren, und andere, in denen er noch nie zuvor gewesen war. Kreuz und quer durch den Prenzlauer Berg zog er, rund um den Alexanderplatz und mitten durch den WestBerliner Wedding. Er fuhr mit der S-Bahn zum Kurfürstendamm, nach Kreuzberg und Neukölln und zog auch dort durch die Straßen. Und regnete es und wurde er nass, fand er das nur passend.
Die Erwachsenen in seiner Umgebung begriffen nicht, dass er nun niemanden mehr hatte. Da war ja Onkel Willi, da waren Tante Grit und Onkel Karl, da war Robert. Aber was sollte er von einem Onkel Willi haben? Was von Tante Grit und Onkel Karl, die nur alle vierzehn Tage mal eine Stunde Zeit für ihn hatten? Was von dem Bruder, der gerade dabei war, sich ein eigenes kleines Familienglück aufzubauen? Nein, Manni spürte es überdeutlich, von nun an war er auf sich selbst gestellt. Und damit begann er sich zu beobachten: Manni allein in der Stadt! Manni ohne jemanden, der ihn liebt und braucht! Wird er es schaffen? Und was passiert mit ihm, wenn er es nicht schafft?
Sein Kopf war voller Wolken, und betrat er den Ersten Ehestandsschoppen, machte er ein steinernes Gesicht. Nur wenn er den Bruder traf oder mit Maxe Rosenzweig allein war, konnte er heulen.
Robert sagte ihm, dass er keine Angst haben müsse, er sei ja da, und der kleine Schneidermeister winkte ihn öfter in seine Werkstatt, ließ ihn auf dem großen Bügeltisch Platz nehmen und zusehen, wie die Nähmaschine ratterte, und tröstete ihn dabei mit Worten wie: »Ein Mensch kann ungeheuer viel aushalten. Du auch!«
Worte, die Mut machen sollten. Und Mut machten.
Der Tag der Beerdigung! Gesichter, die Manni anblickten; eine Zeremonie, die ihn verstörte.
Maxe Rosenzweig war nicht mit auf den Friedhof gekommen. Er hatte sich dafür bei Onkel Willi entschuldigt, sagte, für Tote gebe es nur Totes, er hasse Leichenbegängnisse, und scherzte verlegen, deshalb werde er eines Tages wahrscheinlich auch seine eigene Beisetzung boykottieren. Aber der übrige Stammtisch und der Gesangsverein, der donnerstags im Ersten Ehestandsschoppen tagte, waren da, und bis auf Tante Lucie, die zwei Jahre zuvor gestorben war, waren auch alle Verwandten erschienen. In der total überfüllten kleinen Kapelle saßen und standen sie beieinander, all diese Männer und Frauen, die die Mutter gekannt hatten, und nicht wenige von ihnen blickten anstatt des Sarges Manni an: Ein Junge, der über den Tod seiner Mutter nicht weinen konnte? Mit dem stimmte doch was nicht!
Er starrte wütend zurück: Weshalb zogen die denn alle so betroffene Fratzen? So nahe hatte die Mutter den meisten von ihnen doch gar nicht gestanden. Und weshalb kuckten sie denn ihn an und nicht den Sarg?
Er trug den graugrünen Anzug, den Tante Grit ihm gekauft hatte, und fühlte sich fremd in seiner Haut. Dieser so reich verzierte
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