Krokodil im Nacken
gesessen, er konnte auf alles herabblicken und hatte sofort gespürt, dass das hier etwas ganz anderes war als Kino. Die Leute bewegten sich feierlicher und erschienen ihm aufgeregter; alles atmete Besonderheit. Dann ging der Vorhang auf, und er sah das Bühnenbild: eine angedeutete orientalische Landschaft, Sonnenglast, hellblauer Himmel, farbig aufeinander abgestimmte Kostüme. Ein Sultan kam in dem Stück vor, seine Schwester, ein Tempelherr mit Schwert, Nathans Tochter Recha, seine Haushälterin Daja, ein Mönch, ein Patriarch, ein Derwisch und der alte Jude Nathan selbst, der wirklich ein Weiser war, wie er mit jedem Schritt, jeder Handbewegung, jedem Lächeln bewies.
Über der Rangbrüstung hängend, sog er alles in sich auf, das Spiel der Schauspieler, die Reaktion des Publikums, jedes Wort, das gesprochen wurde. Im Unterricht hatten sie die Ringparabel durchgenommen; eine Geschichte, die er sofort begriffen hatte: Alle Religionen waren gleich; ein jeder sollte glauben, was er wollte; es kam nur darauf an, ein Mensch zu sein. Jetzt aber, mitten im Stück, die Worte des Patriarchen: »Der Jude wird verbrannt – tut nichts, der Jude wird verbrannt!« Worte, die ihn erschütterten. Sollte dieser Lessing vor zweihundert Jahren schon geahnt haben, was später millionenfache Wirklichkeit werden sollte?
Er sah Maxe Rosenzweig vor sich, auf seine Art ja auch ein Nathan, und es jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Nicht mal das versöhnliche Ende erlöste ihn aus seiner Verkrampfung. Zwar waren da auf einmal alle irgendwie miteinander verwandt, die Christen und die Mohammedaner, der Jude Nathan jedoch gehörte nicht dazu. Weil er nur Rechas Adoptivvater war? Oder was sonst hatte der Dichter Lessing damit sagen wollen?
Als er an jenem Abend zur Mutter heimkehrte, lag er lange mit weit offenen Augen im Bett. Alles in ihm war in Aufruhr. Nun stand es endgültig fest: Er wollte Schauspieler werden! Im Theater steckte viel Wahrheit, das hatte er an diesem ersten Theaterabend erkannt – und fand es mit jedem weiteren bestätigt. Denn von nun an war er immer öfter in die Schumannstraße gepilgert und hatte alle möglichen Stücke gesehen. Der Zauber dort, auch wenn er längst nicht alles verstand, was auf der Bühne gesagt und getan wurde, nahm ihn stets aufs Neue gefangen.
Nur ein Verlust in dieser Zeit der vielen Verluste, doch ein wichtiger, und dazu einer, den er nicht mal auszusprechen wagte. Robert und Reni hatten nicht das Geld, ihn einmal in der Woche ins Theater gehen zu lassen. Und hätten sie es gehabt, hätten sie ihm nicht erlaubt, nachts allein durch die Stadt zu wandern.
Den ersten Heiligabend ohne die Mutter verbrachte Manni in Renis Familie; eine Großfamilie, die zusammenhielt. Lauter Tanten und Großtanten. Zu Weihnachten kamen sie alle nach Berlin, in die Wohnung von Renis Eltern. Sogar aus Amsterdam kamen sie angereist.
Er saß zwischen all den fremden, sich lustig gebenden Menschen und versuchte, ein freundliches Gesicht zu machen. Es gelang ihm nicht; er fürchtete die Bescherung. Und richtig, als das Licht gelöscht war, nur noch die Kerzen am Tannenbaum brannten und ein Weihnachtslied nach dem anderen gesungen wurde, hielt er es nicht länger aus. Tränenüberströmt lief er in die Küche.
Das kleine holländische Mädchen kam und brachte ihm Schokolade; es dachte, er sei mit seinen Geschenken nicht zufrieden. Und auch Robert kam in die Küche. Doch wie hätte ihn der Bruder trösten sollen? Er fühlte sich so elend und allein gelassen, da konnten Worte nicht helfen.
Erst viel später an diesem Abend schaffte er es, sich zusammenzunehmen. Er saß mit am Tisch, spielte Karten und war sogar ein wenig stolz auf sich, wusste er doch, was er leistete. Auf dem Heimweg traf ihn ein neuer Schlag: Er hatte vergessen, sich für die Geschenke zu bedanken, und musste sich Renis Vorwürfe anhören.
Als er in dieser Nacht auf dem Küchensofa lag, wünschte er sich weit fort, in eine andere Welt oder ganz und gar weg. Hätte ein vergifteter Apfel auf dem Küchentisch gelegen, er hätte wenigstens mal dran gerochen.
Am ersten Feiertag besuchte er Tante Grit. Sie sah ihm an, was mit ihm los war, und versuchte, an seine Vernunft zu appellieren. Auch wenn er das jetzt noch nicht so ganz verstehen könne und es sich bestimmt ganz furchtbar anhöre, müsse er doch froh sein, dass alles so gekommen sei. Was hätte denn aus ihm mal werden sollen, wäre er weiter in solch ungesunden Verhältnissen
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