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Kronhardt

Titel: Kronhardt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dohrmann
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aufspürte.
    So mischte er sich in die Gespräche und gab ihnen das Gefühl von Erwachsensein. Wenn sie Geschichten aufwärmten, wärmte er mit. Wenn sie Springer oder Strauß zitierten, verknüpfte er das arglos mit der Frankfurter Schule; wenn sie die Köpfe von Ensslin und Baader forderten, forderte er mehr Köpfe. Er sprach sich für Brandt aus, nur weil sie für Kiesinger sprachen oder Barzel; er fragte nach Zusammenhängen und Komplexen, und wenn sie nicht weiterwußten, bot er ihnen Auswege, auf denen er ihre Weltsicht zerlegen konnte. Und wenn sie in der Falle waren und plötzlich die Enge spürten, drehte er den Spieß um, tat verlegen und bewunderte schließlich ihren Scharfsinn. So entblößte er seine Altersgenossen, und sie fühlten sich noch geschmeichelt. So setzte er auf das Recht des Gastgebers, kam diesen drallen Dingern nahe, und manchmal erregte ihn die Stumpfheit dahinter oder der Ekel, und er huschte zwischendurch auf seine Junggesellenbude.
    Mit der Zeit gewöhnte sich Willem für diese Kellerbarverpflichtungen ein Repertoire an, und er konnte mühelos von einer Rolle in die andere springen. Je nach Absicht oder Laune. Er adaptierte Wörter und Lautgestaltung und formte daraus beliebige Weltsicht. Er schien arglos, wenn er Körperhaltung und Gesten nachahmte, und wenn er einen guten Tag erwischte, verwandelte seine Sprache sich in den Geist der anderen; in seinen Worten zerköchelte das Bewußtsein, Wahrnehmung und Realität wurden eins, und die anderen standen gefällig da, als hörten sie sich selber sprechen.
    Er brachte sie zum Lachen, er setzte sie in Szene und befriedigte ihre Eitelkeit. Er übernahm, was alle übernommen hatten, und erschuf daraus Individualismus. Er war zynisch, er war süffisant und machte daraus weltmännische Offenheit – und mehr: die Tugend einer pionierhaften Elite. Und es blieb unglaublich, was mit Worten alles zu machen war; ein bißchen Haltung dazu, ein bißchen Ausdruck, wie gesagt. Und wenn er es darauf anlegte, konnte er mit schönster Sprache erbärmlichsten Gestank hervorlocken – als wäre hinter der jugendlichen Hülle bereits alles verfault.
    So erlebte Willem die gesellschaftlichen Verpflichtungen; leger, doch nicht zu freigeistig gekleidet; ein stets aufmerksamer Gastgeber, und bald hatte sich noch die vernageltste Tochter an seine arglosen Hände gewöhnt. Die Mutter und Kronhardt genossen es, Willem zu sehen; doch in Wirklichkeit, wie gesagt, erstickte er bald im miefigen Spalt. In Wirklichkeit entstand alle Perfektion und Zuspitzung nur aus der Angst, vor der entscheidenden Metabolie zu versagen. Doch rings seinen Altersgenossen konnte er nichts davon sagen, wie es tatsächlich in ihm aussah. In diesen Kreisen war man fest überzeugt vom Lebensweg mit Fortpflanzung und Wohlstand; und alles, das diesen Weg in Frage stellte, würden sie aufgreifen und als Schwäche verreißen.
    Dann tauchte Frau Lund auf so einer Kellerbarparty auf.
    Eine Reiterin aus dem Rotenburgischen, Olympionikin mit mehreren Medaillen in Dressur. Sie war eine grazile Frau mit dunklem kurzgeschnittenem Haar, und Willems Mutter führte sie durch die Gesellschaft – der Brauereidirektor, sagte die Mutter, die Reedersgattin, der Deutschmeister. Die Männer küßten Frau Lund die Hand – Hochachtung, sagten sie, und Gold für unser Land. Die Frauen beneideten sie um ihre Figur, aber der Druck einer ganzen Nation, sagten sie, ein Patzer, ein Fehltritt, und alles sei dahin. Schrecklich, sagten sie, und die Olympionikin lächelte. Später stand sie neben Willem. Sie schnalzte leise, wenn er zynisch wurde, und spornte ihn heimlich für seine Arglosigkeit.
    Für Willem war es kein Problem, den Stundenplan zu frisieren.
    Und die Mutter und Kronhardt fanden es sogar vernünftig, daß er jetzt häufiger mit dem Käfer zur Hochschule fuhr. Er sollte ruhig zeigen, daß er automobil war, und mehr: daß er nicht den erstbesten Gebrauchten fuhr, sondern ein nagelneues Werksmodell, und sie steckten Willem ein Extrageld zu, damit er den Käfer regelmäßig polieren ließ.
    Von der Hochschule zu ihrem Gehöft war es eine gute Stunde. Sie hieß Karin, und sie nannte ihn Herr Przewalski. Auf die Wände im Kaminzimmer waren Malereien aus den Höhlen reproduziert – Altamira, Lascaux, alles, was das franko-kantabrische Kernland an Urpferden

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