Kronhardt
er raus und spazierte an der Wümme. Und jeden Mittwoch besuchte er die Zwillinge, ging mit ihnen zu Macciavelli, lud sie ins Kino ein, und abends telefonierten sie mit Schlosser. Später saà Willem dann manchmal noch mit der Witwe.
Der Herbst kam zeitig, und es gab bereits Frost, während das Laub noch in voller Färbung stand. Willem fuhr mehrmals Richtung Norden, wo er hinter Zirbels Kuhle über den Geestrücken marschierte. Wenn die Sonne schien, leuchteten die Wälder, und die Stämme der alten Buchen erhoben sich wie Säulen. Ein Bach durchzog die Wiesen, schlängelte gegen einen Wald und schnitt sich aufwärts bald in den weichen Boden, so daà kleine Steilufer aufragten. Als er dort auf einem Baumstamm saÃ, entdeckte er einen Eisvogel, und sein Gefieder schien wie aus einer anderen Welt zu strahlen. Der Bach zog in Schleifen dahin, es plätscherte, und durch die Sonnenstrahlen segelten Blätter herab. Manchmal stieà auch eine Brise durch die Kronen, und das Rascheln wogte und stand über dem ganzen Wald. So saà er da, und es tat ihm gut, einfach dazusitzen. Er konnte im Schweigen versinken, und die endlosen Alltagsschleifen in seinem Kopf schienen erloschen.
Na, immerhin bringen die Linken mit ihren Plakaten und Parolen ein biÃchen Abwechslung, was. Der Professor stand da und lachte. Dann zeigte er auf eine Anordnung von Fahndungsplakaten. Was halten Sie davon?
Vielleicht sind die Strukturen dieser Köpfe für die Automatenideologie genauso prädestiniert wie für jede andere. Vielleicht gibt es Prinzipien, die die Einzelpersönlichkeit auflösen und in eine Gruppe überführen â Religion, Nazis oder Rote-Armee-Fraktion. Dann machte Willem eine Geste und zeigte noch einmal auf die Plakate. Der Kampf geht weiter, könnte man meinen. Doch es kommt wohl darauf an, wo und wie und warum. Aus der deutschen Geschichte und Gegenwart heraus gibt es sicher immer noch Anlaà genug zur Empörung. Doch wenn man die Zustände hier mit den Zuständen beispielsweise in Guatemala vergleicht, stellt sich schon die Frage nach VerhältnismäÃigkeit und Verblendung. Und zudem muà man immer fragen, ob es berechtigt ist, etwas, was man als Alptraum empfindet, mit einem anderen Alptraum zu bekämpfen.
Da sagen Sie was.
Als sie später über den Boulevard schlenderten, lud Willem den Professor auf einen Kaffee ein. Sie drückten die Tastenkombinationen, und der Automat spuckte Becher und Flüssigkeit aus. Sie wuÃten nicht, wie lange es noch dauern konnte, bis die fortschreitende Automatisierung der AuÃenwelt die tiefe Innenwelt des einzelnen ganz durchdrungen hatte. Bis uralte Verhaltensweisen sich auflösten und etwas Neues weitervererbt wurde, bis die Wahrnehmung eine automatisch gleichgeschaltete Wirklichkeit hervorbrachte und es niemanden mehr gab, dem ein tiefes Gefühl entstand beim Anblick eines Weizenfeldes. Sie wuÃten nicht, wie lange es noch dauern konnte, bis die Menschen selbströstendes Brot aÃen; bis ihnen aus den synthetischen Kulturen einer Petrischale ein Schnitzel entwuchs, bis nur noch ein Unternehmen die Weltversorgung beherrschte und von Kabul über Veracruz bis nach Bremen gleichgeschaltete Lebensmittel forcierte und es auf Erden nur noch einen Haufen Monokultur gab; voran, sagten sie, die Monokultur Mensch. So plauderten sie vorm Kaffeeautomaten oder auf dem Boulevard.
Einmal sagte der Professor: Die Betriebswirtschaft macht Sie nicht glücklich. Was, Kronhardt?
Und Willem wurde rot.
Ein heikler Punkt.
Ja.
Wie ich Ihnen bereits sagte, auch mich macht sie nicht glücklich. Und ich habe lange gebraucht, um dahinterzukommen. Ich habe immer geglaubt, ein zufriedener Mensch zu sein, weil ich meine Steckenpferde habe. Doch eines Tages bekam ich dann Angst und meinte, meine wahren Wünsche würden auf der Strecke bleiben. Ich glaubte plötzlich, mich einfach an vermeintliche Zufriedenheit gewöhnt zu haben und alle Wünsche nach Veränderung zu verdrängen. Bald rissen auch meine Steckenpferde mich nicht mehr raus, ich fabrizierte automatisch die Denkmuster all derjenigen, deren Wünsche auch auf der Strecke geblieben waren, ich fühlte mich alt und verbittert und blickte empört auf diejenigen, die noch den Schneid aufbrachten, sich gegen diese Falle zu wehren. Und was soll ich Ihnen sagen, Kronhardt: Ich habe mich entschieden, nicht zu verbittern. Und seitdem sehe ich
Weitere Kostenlose Bücher